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Der große Sozialliberale ist tot

Ein etwas anderer Nachruf

Gerhart Baum ist in der Nacht von Freitag zu Samstag – vor einer Woche – im Alter von 92 Jahren gestorben. Eine schwere Krankheit hatte ihn im vergangenen Jahr geschwächt – ihn, den unermüdlichen Kämpfer für den sozialen Liberalismus, für Bürgerrechte und Demokratie. Mit ihm verliert der fortschrittliche, linke, politische  Liberalismus einen Streiter für Grundrechte und für eine offene und tolerante Gesellschaft, für Kultur, Umweltschutz und für den Erhalt eines freien öffentlich-rechtlichen Rundfunks als vierter Säule der Demokratie.

Seine größte Sorge galt in den letzten Jahren der Gefährdung unserer Demokratie von Rechts. So schrieb er 2024 in der Denkschrift „Uns das Grundgesetz aneignen“ des Radikaldemokratischen Bildungswerks e.V., das vom bundesweiten Netzwerk ehemaliger Jungdemokraten gegründet wurde und dessen Beirat er angehörte, schon im August 2024: „Weimar ist letztlich durch den Verrat der bürgerlichen Mitte zugrunde gegangen, nicht durch den Zangengriff der extremen Ränder.“ und er setzte glasklar hinzu: “Die Hürden für ein Parteiverbot der AfD sind hoch…auch wenn Instrumente zur Zeit nicht angewandt werden, müssen sie im Blick bleiben. …Eines kann die Bundesinnenministerin allerdings jetzt tun: die nazistische AfD-Jugend, die ein Verein ist, bei dem die Hürden des Parteiverbots nicht gelten, sofort verbieten.”

Woher kam seine so klare Sicht der Dinge?

Gerhart R. Baum trat 1954 in die FDP, die Deutschen Jungdemokraten (DJD) und den Liberaldemokratischen Studentenbund Deutschlands (LSD) ein. Die FDP war damals in den Landesverbänden NRW, Niedersachsen und Hessen zum Teil von Altnazi-Netzwerken kontrolliert, so Burkhard Hirsch Weggefährte und “alter Ego” Gerhart Baums 2019 in “100 Jahre Jungdemokraten”. So wurde etwa Heinz Wilke, ehemaliger Chefredakteur der HJ-Zeitung “Wille und Macht – Führerorgan der Nationalsozialistischen Jugend”  vom Landesvorsitzenden der FDP NRW Middelhauve,  zum Landesgeschäftsführer der Partei gemacht. Auf dem FDP-Bundesparteitag 1953 hatten sich die “Jungen Adler” als eine uniformierte Saalschutztruppe in HJ-Manier einen zweifelhaften Ruf erworben.  Die Jungdemokraten und vor allem der LSD waren damals die  Speerspitze des Liberalismus, wie ihn die FDP-Landesverbände wie Baden-Württemberg, Bayern oder Hamburg in Tradition der Weimarer DDP und Südwest-Demokraten (DVP) vertraten.

Jungdemokrat Baum gegen Rechte in der FDP

Anfang der 60er Jahre spitzte sich dieser Konflikt zu. Und als Kreisvorsitzender der Kölner Jungdemokraten prozessierte  Gerhart Baum gegen den langjährigen FDP-Vorsitzenden Middelhauve, kämpfte politisch gegen Erich Mende und den nationalistischen Flügel der FDP. Was das bedeutete beschreibt Günter Verheugen von einem “Deutschlandtreffen” der DJD am 17. Juni 1961 am “Herrmannsdenkmal” in Detmold: “Wir waren aus Brühl mit einer ganzen Busladung dabei. Erich Mende, der durch ein Spalier gleichgekleideter, Pechfackeln tragender junger Männer (nur solche) auf das Denkmal zuging und dann eine ziemlich wilde nationalistische Rede hielt. Ich sagte zu meinen Reisegefährt*innen: ‘Ich glaube, wir sind hier auf dem falschen Dampfer und gehen lieber ein Bier trinken.’ Bevor wir gingen, stellte sich ein etwa 10 Jahre älterer Mann als Gerhart Baum vor, Kreisvorsitzender in Köln, er hätte mir einiges zu erzählen, bevor ich den Jungdemokraten adé sagen würde.”  Baum hierzu 2019: “Das war ein langer Weg von den Nazi-Netzwerken der NRW-FDP bis zum Freiburger Programm von 1971, in dem Werner Maihofer einen sozialen Liberalismus definierte.” Als Bundesvorsitzender der Jungdemokraten stritt Baum ab 1968 erfolgreich für eine neue Ostpolitik. “Die Rolle der Jungdemokraten im Prozess der Erneuerung der FDP in den sechziger und siebziger Jahren ist nicht nur vergessen, sie ist schon immer unterbewertet worden”, so Baums Resumee 2019.

Bürgerrechte in Gefahr und die Antwort Gerhart Baums

Mitte der siebziger Jahre war der Aufbruch der sozialliberalen Koalition ins Stocken geraten. Zwar hatten Willy Brandt und Walter Scheel die Ostverträge zur Entspannungspolitik mit der UdSSR, Polen  und dem Ostblock durchgesetzt und waren  in der Bundestagswahl 1972 gestärkt worden, aber der Terrorismus der RAF und die staatliche Reaktion darauf, die in einem Abbau von Bürgerrechten bestand, beschädigte die freiheitliche Rechtsordnung und was Willy Brandt 1969 versprochen hatte: “Wir wollen mehr Demokratie wagen!”. Die Berufsverbotepraxis der Länder gegen Kommunisten im öffentlichen Dienst, die in Einzelfällen auch nicht vor Jungsozialisten oder Jungdemokraten und Pazifisten halt machte, deuteten nicht nur einen möglichen Weg in den Überwachungsstaat an. Der Staat drohte, das Vertrauen der mehrheitlich antinazistischen,  linken und ökologischen Jugend komplett zu verlieren.

Baums Antwort auf den autoritären Staat

Als der Bundesnachrichtendienst  – legal nur für das Ausland zuständig – also doppelt verfassungswidrig beim Atomphysiker Prof. Klaus Traube einbrach, damit der Verfassungsschutz ihn verwanzen konnte, was der “Spiegel” 1978 aufdeckte, war der Eklat komplett. Die Jungdemokraten forderten den Rücktritt Innenminister Maihofers. Monate später zeigte dieser Einsicht und Gerhart R. Baum wurde sein Nachfolger.  Er reformierte die Kontrolle der Geheimdienste, beendete die “Regelanfrage” beim Verfassungsschutz bei der Bewerbung für den öffentlichen Dienst gegen den Widerstand seiner CDU/CSU Kollegen aus den Ländern. Er bekämpfte den Terrorismus der RAF nicht nur mit polizeilicher Repression, sondern fragte politisch nach den Ursachen, ließ sie von Sozialwissenschaftlern erforschen. Fünf umfangreiche Bände “Analysen zum Terrorismus” sind bis heute das luzide, intelligente und in Teilen überraschend aktuelle Gegenstück zu den unterkomplexen und wirkungslosen  politischen Forderungen fast aller aktuellen Innenminister nach immer mehr Befugnissen für Verfassungsschutz und Polizei ohne Rücksicht auf die Grundrechte.

“Wir alle sind der beste Verfassungsschutz”

war bis zu seinem Lebensende das Grundverständnis Gerhart R. Baums von Innenpolitik, von der richtigen Balance zwischen staatlicher Macht und individueller Freiheit. Er hielt Überzeugen für nachhaltiger als Verbieten und Strafen. 1980 diskutierte er mit dem ex-RAF Terroristen Horst Mahler (damals noch kein Rechtsextremist)  öffenlich im “Liberalen Zentrum” Köln, moderiert von “Spiegel”-Herausgeber Rudolf Augstein. Für die CDU-Kollegen war er damit nicht mehr “würdig”, am gemeinsamen Abendessen der Innenministerkonferenz teilzunehmen und die CDU/CSU-Mehrheit lud ihn im Wahlkampf 1980, wie sie meinten, demonstrativ aus. Erfolg hatten sie keinen. Bis 1982 schaffte Baum überzogene “Sicherheits-“gesetze wieder ab.  Und seinen Prinzipien “Im Zweifel für die Bürgerrechte” blieb er bis zuletzt treu.

Baum, der letzte liberale Umweltminister

Bereits 1970 hatte der damalige Innenminister Genscher Peter Menke-Glückert beauftragt, eine Abteilung für Umweltschutz im Bundesinnenministerium aufzubauen. Er stieß die Umweltthematik in den Freiburger Thesen (1971) an und prägte 1970 (sic!) den Satz: „Das Vietnam-Erlebnis der Bourgeoisie ist das Umweltproblem“.

Baum holte 1978 den inzwischen mit anderen Aufgaben betrauten Fachmann zurück und baute unter anderem das bundesweite Netz von Meßstellen zur Erfassung von Radioaktivität in der Atmosphäre auf, das sich nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl 1986 als wichtiges Instrument zur Einschätzung von Ausmaß und Gefährlichkeit der radioaktiven Verseuchung der Umwelt und insbesondere der Nahrungsmittel erweisen sollte. Mit dem Ausbau dieser Abteilung war es nach der “Wende” Genschers zu Helmut Kohl vorbei. Gerhart Baum ist meines Wissens nie gefragt worden, was er persönlich empfunden haben muss, als Kohl ausgerechnet den rechten Scharfmacher der CSU, Friedrich (Ede) Zimmermann 1983 zum Nachfolger Baums machte. Dessen erste Amtshandlung war natürlich – die Entlassung von Peter Menke-Glückert!

Gerhart R. Baum, der Bürgerrechtsanwalt

Mit der “Wende” 1982 hat die FDP nicht nur eine Koalition gewechselt, sondern auch ihren Bürgerrechtsflügel und die Jungdemokraten verloren. Ähnlich windig, wie heute die Weigerung Christian Lindners, die Schuldenbremse unter Kriegsbedingungen aufzuheben, begründete der rechte Flügel der FDP unter Führung von Otto Graf Lambsdorff die Spaltung des Liberalismus mit angeblich zu hoher Staatsverschuldung, zu hohen Soziallasten und einer “sozialen Hängematte” von Arbeitslosen, Bafög- und Sozialhilfeempfängern und Rentner*innen. Seit Ronald Reagan 1980  in den USA Präsident wurde, war der Abbau von Sozialleistungen und die Ideologie von “Raeganomix” über den Atlantik herübergeschwappt. Die FDP hatte sich mit den “Jungen Liberalen” eine handzahme und harmlose Jugendorganisation herangezogen, von der im Gegensatz zu den Jungdemokraten kein Widerstand gegen den Wirtschaftskurs der FDP zu befürchten war. Das unverschämteste idelogische Märchen aber bestand in der Behauptung, dass die Privatwirtschaft immer alles besser könne, als der Staat als Gemeinwesen. Schönste Beispiele: Die Umwandlung der Deutschen Bundesbahn in die Bahn AG und der Landesliegenschaftsbetrieb NRW (BLB).

Die Verfassung als politisches Schwert

Zeitgleich zur “Wende” 1982 hatte die linksliberale Maya Stadler-Euler gemeinsam mit anderen gegen die Volkszählung vor dem Bundesverfassungsgericht Verfassungsbeschwerde eingereicht und im Dezember ’83 ein bis heute wegweisendes Urteil zum Persönlichkeitsschutz des Individuums vor staatlicher Überwachung erstritten. Das Gericht schuf ein neues Grundrecht auf “informationelle Selbstbestimmung”, dessen bahnbrechende Prinzipien bis heute in die Europäische Datenschutzgrundverordnung reichen und unsere Grundrechte schützen. Gerhart Baum machte sich genau dieses Mittel zunutze. Als die schwarz-gelbe Regierung 1987 versuchte, nochmals eine entschärfte Volkszählung durchzuführen, bildete sich eine bundesweite Bürgerrechtsbewegung dagegen.

Nicht nur der “Große Lauschangriff”

Ohne politische Macht, aber mit Bundestagsmandat, strategischer Klugheit, juristischem Scharfsinn und bürgerrechtlicher Unbeugsamkeit setzte sich Gerhart Baum gegen von ihm als falsch empfundene Gesetze zur Wehr, indem er gegen diese vor dem Bundesverfassungsgericht klagte. Er und sein Kollege, Prof. Dr. Julius Reiter arbeiteten Verfassungsklagen aus und brachten sie gemeinsam mit Burkhard Hirsch in Karlsruhe vor – mit Erfolg natürlich. Die seinerzeit späktakulärste Entscheidung war diejenige gegen den “Großen Lauschangriff”. Sabine Leuthäusser-Schnarrenberger verweigerte sich diesem Instrument des Eindringens in die intimste Privatsphäre in der schwarz-gelben Regierung  Sie trat als Justizministerin zurück. Und sie gewannen. Das Gesetz wurde aufgehoben und die Prinzipien des Urteils flossen in spätere Entscheidungen ein. Etwa die über den Schutz des “Kernbereichs persönlicher Rechte” aus den 2000er Jahren, die es dem Verfassungsschutz und der Polizei auferlegte, bei Abhör- und Aufzeichnungsmaßnahmen gegen Zielpersonen, selbst aus dem terroristischen Spektrum, sicherzustellen, dass auch diese den Schutz  privater und höchst persönlicher Vorgänge aufgrund von Artikel 1 und 2 Grundgesetz nicht verlieren. Vorratsdatenspeicherung, Staatstrojaner, Luftsicherheitsgesetz – die Liste vom Duo oder Trio unter Führung und Beteiligung Gerhart Baums erstrittener Urteile für die Bürgerrechte ist lang und verdienstvoll und hat einen Platz in der Geschichte unserer Demokratie  verdient.

Kulturrat NRW

Ein wichtiges Wirken Gerhart R. Baums bestand in seinem Engagement im Kulturrat NRW, dem er von 2005 bis 2023 vorsaß. Er kämpfte für die sozialen und gesellschaftlichen Belange der Kulturschaffenden – besonders in der Zeit der Covid-Krise – und führte dieses Ehrenamt bis ins hohe Alter von 90 wie ein Profi und saß jeden Vormittag am Schreibtisch in seiner Kölner Dachwohnung am Ubierring.

Rundfunkrat und Verteidiger der “vierten Gewalt”

Für den Kulturrat bzw. die Interessen der Kulturschaffenden gehörte er dem Rundfunkrat des WDR an.  Er, der bei den Jungdemokraten das Schmieden von Bündnissen und Koalitionen gelernt hatte, formierte eine Gruppe unabhängiger Mitglieder, die die jahrzehntelange Logik, dass vor allem die SPD und CDU sowie ihre jeweiligen Vorfeldorganisationen die Mehrheiten des Gremiums dominierten, durchbrachen. Sein Einsatz galt weitsichtig einem engagierten, mutigen und unabhängigen Programm mit ambitioniertem Journalismus. Er erkannte früh, dass die (a)sozialen Netzwerke, der seichte Privatfunk und die Kampagnen rechter Kräfte gegen die Rundfunkgebühren im Kern auf die Schwächung der “vierten Gewalt” und der Aufklärung zielen. Er verurteilte die skandalöse Umsetzung von Forderungen der AfD durch  ostdeutsche Ministerpräsidenten, die wegen weniger Cent Gebührenerhöhung  einen Verfassungsbruch in Kauf nahmen.

Internationale Anerkennung der Menschenrechtsarbeit

Gerhart Baum war ein Vorkämpfer für das internationale Strafrecht und den internationalen Strafgerichtshof in Den Haag. Als Leiter der deutschen Delegation zum Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen stritt er auch dort für Grund- und Freiheitsrechte, wurde von der UNO zum Beauftragten der UN für Menschenrechte im Sudan ernannt. Für ihn war klar, dass Putin als Kriegsverbrecher vor diesen Gerichtshof gestellt werden muss.

Der Kreis schließt sich: Warnung vor der AfD

Leider ist die Bundesinnenministerin dem Vorschlag Gerhart R. Baums, die “Junge Alternetive” zu verbieten, bisher nicht gefolgt. Die AfD hat kürzlich beschlossen, die JA zu schließen und eine parteinahe, neue Jugendorganisation zu gründen. Ein Schelm, der nicht durchschaut, dass im Falle des Organisationsverbots auch die Nachfolgeorganisationen mit verboten wären. Da zu erwarten ist, dass die meisten JA-Funktionäre und Mitglieder auch Mitglied der neuen Organisation würden, fiele es der AfD schwer, vorzuspiegeln, dass sie nun eine “völlig neue” Jugendorganisation habe. Da Faeser dies bisher versäumt hat, ist die Chance groß, dass die neue AfD-Jugend genau so rechtsextrem  wie die JA sein wird, dass aber alle Observationsergebnisse und verbotsrelevanten Fakten der letzten 10 Jahre unter den Tisch fallen.  Ein konsequentes Vorgehen des Staates gegen Rechtsexremismus im Sinne Baums sähe anders aus.

Persönliche Nachbemerkung des Autors

Gerhart R. Baum hat niemanden kalt gelassen. Meine erste Rede auf einer Bundesdelegiertenkonferenz der Jungdemokraten 1978 war die Forderung an Maihofer, wegen des Geheimdienstskandals zurückzutreten. Als wir Monate später hörten, Gerhart R. Baum werde sein Nachfolger, waren Erleichterung und Freude groß. Auf dem Berliner “Tränenparteitag” 1982 saßen mein Freund Michael Kleff, damals sein Mitarbeiter und ich neben ihm, als er – nach der Billigung des Koalitionswechsels durch die Mehrheit des Parteitags – mit 176:175 Stimmen die Wahl zum stv. Parteivorsitzenden gegen den rechten Saarländer Klumpp gewonnen hatte. Er ahnte, dass wir Jungdemokraten im Nebensaal des Berliner Kongresszentrums eine neue linksliberale Partei, die “Liberalen Demokraten” gründen wollten. Für einen Erfolg hätte es prominenter Unterstützung bedurft. Aber die SPD hatte bereits Ingrid Matthäus-Maier einen sicheren Wahlkreis versprochen. Als er gefragt wurde, ob er die Wahl annehme, zögerte er: “Was soll ich tun?” und Michael antwortete “lehnen Sie ab”.  Er nahm an und sagte halblaut zu uns “aber ich kann auch nicht in einem Kindergarten mitmachen.” Für mich als Student und Abgeordnetenmitarbeiter war das enttäuschend.  Denn auch das Persönliche ist politisch oder “Das Sein bestimmt das Bewusstsein” (Karl Marx).

Heute, als Vater von zwei Kindern und jemand, der nach der Politik als Selbständiger völlig neu anfangen musste, sehe ich das anders. Ja, die materialistische Wahrheit ist: Baum war verheiratet, hatte zwei Kinder und gerade ein Haus gebaut. Es wäre für den Menschen Baum unverantwortlich gewesen, für unser (letztlich gescheitertes) Anti-FDP-Projekt seine familiäre Existenz aufs Spiel zu setzen. Michael und ich waren damals enttäuscht. Aber heute sage ich, er hat dieses reale Dilemma, in das jede/r Politker/in kommen kann, für sich und seine Familie verantwortungsvoll entschieden.

Nie aus den Augen verloren

Von diesem Tag an gingen unsere parteipolitischen Wege auseinander, aber die menschliche und politische Verbundenheit blieb. Wir trafen uns wieder, bei der Volkszählung 1987, im Kampf um das Asylrecht 1992/93, beim Datenschutz und zu vielen anderen Gelegenheiten, z.B. als Wolfgang Clement in NRW Justiz- und Innenministerium verfassungswidrig zusammenlegen wollte und zuletzt in den Bemühungen, den Verantwortlichen begreiflich zu machen, dass Grüne und FDP in Wirklichkeit viel mehr gemeinsam haben, als Christian  Lindner jemals begreifen wird. Aber das kann den Schmerz über den menschlichen Verlust durch den Tod des letzten großen  Sozialliberalen nicht lindern.  Die Lücke, die sein Tod gerade jetzt reisst, wo die USA in Sachen Demokratie die Seite zu den Autokraten wechseln, es “den Westen” nicht mehr gibt und Europa sich neu erfinden muss, ist schmerzlich und groß.

 

 

Über Roland Appel:

Roland Appel ist Publizist und Unternehmensberater, Datenschutzbeauftragter für mittelständische Unternehmen und tätig in Forschungsprojekten. Er war stv. Bundesvorsitzender der Jungdemokraten und Bundesvorsitzender des Liberalen Hochschulverbandes, Mitglied des Bundesvorstandes der FDP bis 1982. Ab 1983 innen- und rechtspolitscher Mitarbeiter der Grünen im Bundestag. Von 1990-2000 Landtagsabgeordneter der Grünen NRW, ab 1995 deren Fraktionsvorsitzender. Seit 2019 ist er Vorsitzender der Radikaldemokratischen Stiftung, dem Netzwerk ehemaliger Jungdemokrat*innen/Junge Linke. Er arbeitet und lebt im Rheinland. Mehr über den Autor.... Sie können dem Autor auch im #Fediverse folgen unter: @rolandappel@extradienst.net

Ein Kommentar

  1. Berthold Meyer

    Erinnerung an Gerhart Baum.
    Als Baum Innenminister war, musste er damit leben, ständig von Personenschützern umgeben zu sein. Er hat , wie ich mehrfach feststellen konnte, sehr darunter gelitten. Mein schönstes Erlebnis mit ihm war in diesem Zusammenhang, wie wir nach einem Termin im Tübinger Landestheater zu Fuß zu einer Pressekonferenz gingen und mit den Beamten an eine Ampel kamen, die in dem Moment gerade in der Richtung, in die wir mussten, auf Rot sprang. Da packte mich Baum am Ärmel und zog mich in die gerade Grün gewordene Richtung. “Kommen Sie”, sagte er, um wenigstens für eine Minute mal seinen Schutztrupp los zu sein, der ganz verdutzt uns nachsah.

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