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Ukraine

Die USA haben den Nervenkrieg gewonnen, Putin hat die Nerven verloren und einen schweren Fehler gemacht.

Putins Entscheidung ist eine schlimme Sache. Wie kam sie zustande? Seit der Nacht Mittwoch auf Donnerstag zahlreiche Schießereien, schwerer Artilleriebeschuss an der Kontaktlinie. Wir werden nie erfahren, wer dort geschossen hat (und suchen im Archiv vergeblich nach einem Aufruf der USA, diese Kämpfe einzustellen). Materielle Bilanz: Einige Tote (ich habe keine Zahl), eine zerstörte Ölpipeline, zwei zerschossene Wasserpumpstationen, offenbar etwa 10.000 Menschen in den Separatistengebieten ohne Wasserversorgung. Die Separatisten begannen am Freitag die Evakuierung der Zivilbevölkerung nach Russland, ein neuer Flüchtlingsstrom.
Baerbock, und Macron, dann auch Scholz hatten eine Wiederbelebung des Minsker Abkommens versucht, das die Ukraine seit 2015 konsequent nicht umsetzt. Scholz kündigte bei seiner Pressekonferenz mit Selenskyj zweimal an, dieser werde bei der nächsten Verhandlungsrunde die ausstehenden Gesetzentwürfe über Autonomie der Gebiete und Kommunalwahlen dort vorlegen. Diese Initiative wurde offenbar von den USA nicht unterstützt, auf die es natürlich letztlich ankam (ich kenne keine aktuelle positive US-Äußerung dazu). Bei der öffentlichen Sicherheitsratssitzung der Russischen Föderation fragte Putin dann demonstrativ, ob Minsk denn noch eine Chance hätte, und niemand seiner Berater wollte das bejahen.
Putins Anerkennung der abtrünnigen Provinzen als (Zwerg)Staaten findet innenpolitisch überwältigende Zustimmung, weil man sich eine Verbesserung der Lebenssituation für die (russisch sprechenden) Menschen dort erhofft. Außenpolitisch ist sie, vorhersehbar und offensichtlich in Kauf genommen, ein Desaster. Die Sanktionsmaschine, auf die die USA seit Beginn der Kriseneskalation Ende Oktober 2021 hinarbeiten, wird jetzt in Gang kommen, mit entsprechenden Schäden für die europäische und die russische Wirtschaft und entsprechenden Vorteilen für die USA. Die neue Spaltung Europas wird zum tiefen Riss. Die Ausdehnung der NATO-Infrastruktur bis an die weißrussische/russische Grenze geht jetzt schnell und ungehindert voran, das letzte Schamgefühl über die gebrochenen Versprechungen und Zusagen von 1990/91 und aus der NATO-Russland-Grundakte dürfte erledigt sein. Eine Aufnahme der Ukraine in die NATO ist eher eine Frage der Zeit, und in gewissem Umfang des Geschicks der ukrainischen Führung.

Die größte Gefahr aber ist jetzt erst entstanden. Putin hatte bisher einfach abgewartet, wohin die Erregungskampagne der USA und der NATO wohl führen würde, und einmal, Mitte Dezember, mit politischen Vorschlägen zur europäischen Sicherheitsarchitektur geantwortet (diese waren nicht realistisch, aber doch verhandelbar). Jetzt ist er Gefangener seines eigenen ersten Schrittes.

Die militärische Eskalation fand bisher im Kern nur in der Propagandamaschine der NATO statt. Eine solche Fakenews-Blase über Monate habe ich noch nie erlebt. Die Dementis selbst des ukrainischen Präsidenten wollte einfach niemand hören, der Traum vom russischen Aufmarsch und vom “heldenhaften Kampf der Ukrainer gegen den Aggressor” war einfach zu schön (und für viele Beteiligte auch einfach vorteilhaft).

Jetzt aber stehen sich ukrainische Kämpfer und russische Soldaten an der Kontaktlinie direkt gegenüber. Werden die Ukrainer damit aufhören, was sie bisher regelmäßig gemacht haben – Aufklärungsgänge ins Feindesland, Minen legen, Ziele auskundschaften, die dann von der Artillerie beschossen werden? (Man konnte übrigens als Freiwilliger im Urlaub dabei mitmachen.) Werden sie sich, erschreckt von der russischen Übermacht oder respektvoll gegenüber der “Friedenstruppe” des großen Nachbarn, plötzlich zu einer Einhaltung des Waffenstillstands entschließen?

Natürlich nicht, im Gegenteil. Es werden russische Soldaten dort beschossen werden, auf Minen laufen, sterben. Wie wird die russische Militärführung auf solche Scharmützel, wie es sie in den letzten Jahren immer wieder zwischen Ukrainern auf beiden Seiten der Kontaktlinie gab, reagieren?

Diese Reaktion kann sehr schnell und sehr plötzlich in eine lokal begrenzte, eine größere, gar eine umfassende militärische Eskalation hineinführen. Die Kontaktlinie wird jetzt ein einziges großes Pulverfass, und eine lähmende Dauerbelastung für die russische Politik. Chinas Mahnung im Weltsicherheitsrat, alle Beteiligten “sollten sich jetzt zurückhalten”, so asiatisch abstrakt sie klingt, ist wohl noch das Vernünftigste, was man in dieser Situation formulieren kann.

Über Reinhard Kaiser (Gastautor):

Unter der Kennung "Gastautor:innen" fassen wir die unterschiedlichsten Beiträge externer Quellen zusammen, die wir dankbar im Beueler-Extradienst (wieder-)veröffentlichen dürfen. Die Autor*innen, Quellen und ggf. Lizenzen sind, soweit bekannt, jeweils im Beitrag vermerkt und/oder verlinkt.

2 Kommentare

  1. Martin Ottensmann

    Dieser Kommentar beruht wohl auf den Irrtümern, die aus dem Halbwissen von 23. Februar beruhen.
    Die Truppenaufmärsche der Russen und das geschwurbel von historischen Grenzen der Russen erinnert mich an die weltfremden Ansätze der Reichsbürger.
    Jetzt müssen alle Mittel auf Deaskalation und wirtschaftliche Isolation gestellt werden.

  2. Klaus Kohlwey

    Nächster Halt: Baltikum. Wetten dass?

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