Albrecht Müller kann auf ein beeindruckendes Lebenswerk verweisen. Er war nicht nur ein intelligenter Planungschef im Bundeskanzleramt von Willy Brandt. Er verprasst auch heute in hohem Alter nicht sein Ruhestandsagehalt, sondern investiert es seit langem in den Betrieb der auch von  mir intensiv genutzten Nachdenkseiten. Was ihn für mich jedoch immer wunderlicher macht, ist nicht nur die schlechte und damit entwaffnende schlechte Laune, die er verbreitet, sondern auch die bis ins Jähzornige changierende Besserwisserei.

Jüngstes Beispiel: seine Besprechung des Merkel-Auftritts bei Anne Will. Ich habe den Eindruck, Müller wäre erst zufrieden, wenn sich die Kanzlerin aus Verzweiflung über ihr jahrelanges Unrecht-haben endlich vom Dach ihrer Berliner Waschmaschine stürzt.

Man muss ja nicht gleich so weit gehen wie Bettina Gaus. Ihr Bekenntnis zur Merkel-Begeisterung grundiert sicherlich in den klassisch berlinischen redaktionsinternen Debatten der taz. So wie Müller sich immer noch in Lafontaine-ähnlicher Weise an seinem SPD-Leben abarbeitet. Doch alle diese erhitzten Gefühle machen analytisch blind. Es geht nicht darum, wer wieviel Richtiges und Falsches denkt, sagt und schreibt. Es geht darum, wie wir möglichst schnell und möglichst wirksam die herrschende Politik zu Gunsten Notleidender und Flüchtender verbessern, nicht zuletzt auch eine Außenpolitik erkämpfend verändern, die zu weniger statt immer mehr Todesopfern führt.

Die Bundeskanzlerin hat unter dem Eindruck einer tiefgründigen, solidarischen Mehrheitsstimmung in der deutschen Bevölkerung, für die uns europäische Inselvölker und solche, die in Osteuropa ihre Freiheit gegen eine unglaubwürdige Internationalismus-Ideologie erkämpfen mussten, für “verrückt” erklären. Es ist aber nicht verrückt. Es ist ein recht schlichter Humanismus, der sich hier bahnbricht. Er ist nicht geringzuschätzen, nur weil er nicht gleichzeitig antikapitalistisch ist. Es muss auch nicht zufrieden machen. Es kann ja noch kommen. Die Menschen lernen am meisten in sozialen Prozessen. Die bisherigen Fans der Bundeskanzlerin fürchten sich schon davor. Warum nur will Mülller, und wollen viele Andere, diese Chance nicht erkennen?

Über Martin Böttger:

Avatar-FotoMartin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
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