Jürgen Gottschlich hat schon mehrmals in der taz auf die paranoide Panik des Erdogan-Regimes hingewiesen, das Ermächtigungs-Referendum für Erdogan unter Umständen verlieren zu können. Diese Paranoia ist nicht unberechenbar. Einzige Voraussetzung dafür ist, sich wirklich für die Türkei zu interessieren. Da Millionen von uns ihre Herkunft in diesem Land haben, sollte das nicht zuviel verlangt sein.
Update 2.3.: hier ein ergänzender Telepolis-Bericht zum Zusammenhang von Wirtschaftskrise, Referendum und AKP-Kleptokratie-Panik

Ein deutsch-türkischer Journalist, arbeitend für die der größten deutschen Regierungspartei sehr nahestehenden “Welt”, ist für Erdogan nicht wirklich wichtig, aber ein berechenbares Objekt. Ihn einzusperren treibt den selbstreferentiellen politisch-medialen Komplex in Berlin, von dem sich anscheinend sogar das FAZ-Feuilleton beleidigt und ausgegrenzt fühlt, mit absoluter Sicherheit auf alle zur Verfügung stehenden Bäume. Dieser “antitürkische” Effekt ermöglicht und erlaubt es, die etwas schläfrige Pro-Erdogan-Gemeinde unter den TürK*inn*en in Deutschland endlich zu motivieren und beim Referendum an die Abstimmungsurne zu treiben. Diesen Hinweis verdanke ich Oliver Mayer-Rüth im Schaltgespräch der gestrigen 17-Uhr-Tagesschau; in der 20-Uhr-Ausgabe tauchte der Hinweis leider nicht mehr auf. Und wenn sich die Deutschen nur genug aufregen, z.B. wenn die Merkel in die Türkei kommt, ist auch zuhause in der Türkei noch ein Mobilisierungseffekt zu erzielen.
Update 3.3.: Langsam gelingt es türkischen Oppositionellen, die deutsche Öffentlichkeit darauf hinzuweisen.

Die richtige Analyse Erdogans ist, dass es heute bei Wahlen und Abstimmungen immer weniger darauf ankommt, Andersdenkende zu überzeugen, sondern darauf, die Gleichgesinnten zu motivieren und zu mobilisieren. Mobilisierungsfähig und die gesellschaftliche Atmosphäre beherrschend ist, wer die Gleichgesinnten gegen gemeinsame Feinde vereint und in Kampfbereitschaft versetzt. Da können deutsche Parteien von Erdogan noch was lernen. Sie sollten es damit nur nicht, wie aktuell in Bayern (Erdoganartige Vorbeugehaft für “Gefährder”), übertreiben.

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
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