Von Antje Vollmer
Der hundertjährige Riss innerhalb der politischen Linken kann nur geheilt werden, wenn beide ihren Anteil an diesem Schisma erkennen und überwinden
Wenn die Sozialdemokraten und die politische Linke in Europa ihre aktuelle Krise und ihre Schwächephase überwinden wollen, müssen sie zwei Bedingungen erfüllen: Sie müssen ihre Angst vor den permanenten medialen Folterwerkzeugen ihrer politischen Gegner besiegen – und sie müssen endlich ihre eigene ewige Spaltungsgeschichte beenden.
Es ist genau 100 Jahre her, dass die Einheit der politischen Linken in Deutschland und in Europa zerbrach – und zwar so traumatisch, dass dieser Riss bis heute nicht wieder geheilt wurde. Damals, im April 1917, gründete der frühere Fraktions- und Parteivorsitzende der SPD, Hugo Haase, zusammen mit Weggefährten wie Eduard Bernstein, Karl Kautsky, Clara Zetkin, Kurt Eisner, Georg Ledebour und Luise Zietz die Unabhängige Sozialdemokratie (USPD).
Die zentrale Differenz zur Mehrheitssozialdemokratie bestand in der Ablehnung des Krieges. Die USPD war überzeugt, dass im Jahre 1914 an der Stellung zum Krieg der mögliche Erfolg einer geeinten europäischen Sozialdemokratie zerbrochen sei, die kurz davor gestanden hatte, zur bestimmenden politischen Kraft des Kontinents zu werden.
Die Entgleisung
Was war passiert? Bis 1900 war die deutsche Sozialdemokratie das weltweit bewunderte Vorbild einer gut organisierten Arbeiterbewegung. Sie hatte mit Marx und Engels nicht nur die anerkannten Theoretiker hervorgebracht, sie besaß auch die schlagkräftigsten Massenorganisationen, sie organisierte Streiks für soziale Reformen und für die Einführung des allgemeinen gleichen Wahlrechts. Zusammen mit den französischen Reformsozialisten unter Jean Jaurès hatte sie eine unbestrittene oppositionelle Führungsrolle inne und wurde auch von den Konservativen gefürchtet.
Noch 1912 war auf dem Friedenskongress der Zweiten Sozialistischen Internationale in Basel erklärt worden: Wenn die herrschenden imperialistischen Kräfte einen Krieg vom Zaun zu brechen wagen, werden die vereinigten Organisationen der Arbeiterbewegungen in Europa in den Generalstreik treten und dieses Gemetzel verhindern. Dann stimmte die Reichstagsfraktion der SPD den Kriegskrediten zu, dann wurde unmittelbar vor Kriegsausbruch Jean Jaurès ermordet – und aus dieser Niederlage und Katastrophe entstand das einhundertjährige Schisma der Linken.
Die sozialdemokratischen Parteien verstanden sich von da an als Sozialreformer und Sozialarbeiter im nationalen Rahmen, die radikaleren Kräfte verabschiedeten sich von der Hoffnung, auf demokratischem Wege und gewaltfrei die kapitalistische Welt zu verändern.
Aus heutiger Sicht ist es immer noch schwer begreiflich, warum die damalige SPD unfähig war, dieses Schisma zu verhindern. Die USPD war vielleicht die letzte Möglichkeit eines dritten Weges, um die dauerhafte Spaltung der Linken zu verhindern. 1917 zählte sie immerhin 100.000 Mitglieder, 1920 sogar 200.000. Gerade in den Jugend- und Frauenverbänden hatte sie erhebliche Unterstützung.
Bei den Antikriegsdemonstrationen mitten im Krieg spielte sie die zentrale Rolle. Nach der Novemberrevolution aber geriet die USPD zwischen die Fronten der radikaleren Kräfte der Spartakus-Gruppe um Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht und die rigorose Ausgrenzungspolitik der nunmehr staatstragenden Mehrheitssozialdemokraten. Der Preis war hoch: Ein dritter Weg einer einheitlichen Linken war für die gesamte Zeit der Weimarer Republik versperrt, die Spaltung aber half dem Aufstieg der reaktionären Bewegungen.
In Russland begann derweil ein neues Kapitel der Weltgeschichte: das bolschewistische Experiment einer Revolution unter Führung einer diktatorischen Avantgarde. Dieses allerdings war unter der direkten Protektion des deutschen Generalstabs auf die Welt gekommen: Die Idee, im Hinterland der russischen Armee eine Revolution anzuzetteln, um die russische Streitmacht dadurch im eigenen Land zu binden, war von den deutschen Generälen Ludendorff und Hindenburg ausgedacht.
Sie schickten nicht nur Lenin (eine Art Osama bin Laden) gut geschützt nach St. Petersburg, sie statteten ihn auch mit einer gigantischen Summe an Goldmark aus, um seinen Erfolg gegen die Menschewiki (eine Art russischer Sozialdemokraten) zu garantieren. Schon damals waren offensichtlich die Geostrategen der politischen Rechten den braven linken Vaterlandsverteidigern weit überlegen.
Mit den diktatorischen Entgleisungen der bolschewistischen „Diktatur des Proletariats“ und erst recht mit der Brutalität der stalinschen Säuberungen und Gulags war diesmal von Seiten der Kommunisten jede Brücke abgerissen, die zu einer Überwindung des Schismas der linken Kräfte in Europa hätte führen können, die doch im Kampf gegen den aufkommenden Faschismus dringend notwendig gewesen wäre.
Ein letztes Aufbäumen war das weltweite Engagement von linken und bürgerlichen Kräften im spanischen Bürgerkrieg für die Zweite Republik, die gerade eine Alternative zum Sowjetsystem stalinscher Prägung hätte sein können. Nicht wenige linke Aktivisten versuchten, für dieses Ziel dem Moskauer Exil mit seinen Schauprozessen zu entkommen. Wieder aber war ein dritter Weg nicht erfolgreich.
Die antibolschewistische, antikommunistische und auch anti-russische Keule wurde ab dann zum festen Bestandteil politischer Kampagnen in allen europäischen Ländern, besonders aber in Deutschland. Schon in der Weimarer Republik hatten die reaktionären Kräfte regelmäßig von der Spaltung der Linken profitiert. Ein erstaunliches Ergebnis bis heute ist: In 100 Jahren deutscher Parlamentsgeschichte standen nur ganze 25 Jahre unter einem SPD-Regierungschef. Besonders in der Bundesrepublik war der Verweis auf die „S-Sowjets“ und die „Zone“ (Adenauer) sicherer Garant für alle konservativen Wahlerfolge seit 1948.
Dabei genügten tumbe Parolen wie: „Der Russe kommt“, „Freiheit statt Sozialismus“, der Verweis auf den „Vaterlandsverräter Frahm“ (Willy Brandt) , die „Fünfte Kolonne Moskaus“ oder noch in jüngster Zeit die „Rote Socken“-Kampagne. Aus Angst vor dieser Stigmatisierung und diesem Kontaktgift, schreckte die SPD selbst dann noch davor zurück, die Macht zu ergreifen, als es mit den Grünen und den Linken längst parlamentarische Mehrheiten im Bundestag und in den Länderparlamenten gab.
Dahinter stand regelmäßig die Angst vor medialen Schlammschlachten, die sich seit 1948 regelmäßig antikommunistisch gebärden – die Springer-Presse ist ein Meister dieses Fachs. Aber entscheidender ist die Unfähigkeit der Parteien des linken Spektrums, ihre historische Spaltung auf Zukunft hin endlich zu überwinden. Dabei sind viele Mitglieder der heutigen „Linken“ längst sozialdemokratischer als mancher eigene Genosse (und der SPD-Schreck Oskar Lafontaine ist in Rente).
Der Zeitpunkt und die Notwendigkeit der Wiedervereinigung der europäischen Linken sind jetzt gekommen. Wenn dieses Ziel nicht angepackt wird, droht nicht nur den Sozialdemokratischen Parteien Europas, sondern auch den neuen linken Bewegungen – wie Syriza in Griechenland, Podemos in Spanien und übrigens auch den Grünen – ein Dasein als Mauerblümchen der Geschichte.
Dafür muss die europäische Linke sich aber erst einmal an Haupt und Gliedern, in der Theorie und in der Praxis, vom Geist der Großen Koalitionen trennen, von ihrer Bereitschaft zur machtpolitischen Kooperation, zum strategischen Mitläufertum und zur mithelfenden Sozialarbeit bei gerade jenem Politik- und Strategie-Konzept, das die letzten 25 Jahre den Westen in dessen tiefste Krise gestürzt hat.
Das Ergebnis dieser verlorenen Jahre wird allmählich deutlicher und verlangt, dass die Politstrategen endlich einmal öffentlich Rechenschaft ablegen darüber, wie sie denn mit dem Sieg im Kampf der Systeme zwischen Ost und West umgegangen sind. Die Kriege sind nicht weniger geworden, seit die Sowjetunion verschwand. Die Globalisierung hat die Spannungen zwischen Arm und Reich in den einzelnen Ländern und die zwischen Nord und Süd weltweit verschärft.
Die EU ist zwar größer geworden, aber tief gespalten und international kaum handlungsfähig. Das internationale Finanzkapital und die Weltkonzerne lassen sich kaum noch politisch steuern, die Korruption wächst. Die UNO hat Gewicht und Gestaltungsmacht verloren. Stellvertreterkriege und ungleiche internationale Ausbeutungsverhältnisse destabilisieren Kontinente, Kinderarmut und Jugendarbeitslosigkeit nehmen zu.
Wie vor hundert Jahren müssen die Parteien der Linken ihre Daseinsberechtigung zuallererst dadurch beweisen, dass sie aus den Kriegen und Sanktionen endlich aussteigen, selbst aus denen, die angeblich aus Menschenrechtsgründen geführt werden. Es gibt keine größere weltweite Fluchtursache und auch keine nachhaltigere Verletzung der Menschenrechte als den Krieg – diese einfache Wahrheit muss am Anfang aller Bemühungen um ein gemeinsames Agieren aller europäischen Linken stehen. Eine Klarheit darüber wird viele Menschen zurückbringen, die sowieso nie die moralisch verbrämte Kriegspropaganda der neokonservativen Ära geglaubt haben.
Der hundertjährige Riss innerhalb der politischen Linken aber kann nur geheilt werden, wenn beide ihren Anteil an diesem Schisma erkennen und überwinden. Mit historischem Abstand müsste es heute leichter sein, anzuerkennen, was jeweils an falschen Wegen sowohl von Sozialdemokraten wie von den Kommunisten beschritten wurde. Nur wenn beide die Verlustbilanz der ewigen Spaltung erkennen, gibt es erneut eine Chance für die dritte Möglichkeit.
Ein tragischer Fehler der SPD
Ja, es war ein großer und tragischer Fehler der SPD, die deutsche Arbeiterbewegung 1914 mit in den Krieg zu führen. Ja, es war ein Fehler der Kommunisten, deswegen den parlamentarischen und gewaltfreien Weg ganz zu verlassen. Ja, der Bolschewismus war antidemokratisch und ein Völkergefängnis.
Aber im Gegensatz zum deutschen Faschismus hat sich die durch Bürgerkrieg, Terror und zwei Weltkriege geschundene Sowjetunion erst vorsichtig unter Chrustschow und später unter Gorbatschow zu großen Teilen selbst befreit, sie ist nicht von außen befreit worden. Es ist übriges eine arge, aber inzwischen sehr beliebte Geschichtsklitterung, diesen Verdienst nur den wenigen Bürgerrechtlern allein zuzuschreiben.
Ja, es war eine brutale Ungerechtigkeit, in der frühen DDR die Sozialdemokraten in eine Zwangsvereinigung namens SED zu zwingen. Aber es war auch wenig souverän, nach 1989 allen ehemaligen SED-Mitgliedern den Beitritt zur SPD zu verweigern. CDU und Liberale waren damals keineswegs so wählerisch mit ihren adaptierten Neumitgliedern aus den ehemaligen Blockparteien.
Und auch das sei gesagt: Ja, es war ein politisches Schurkenstück, den Grünen ausgerechnet mit den Lehren aus Auschwitz die Zustimmung zum Kosovo-Krieg abzupressen. Das hat nicht nur am Ende auf dem Balkan europäische Zwergstaaten geschaffen, die nicht lebensfähig sind, es hat auch die Grünen im Wesenskern verändert.
Aber im Zentrum einer neuen Politik muss doch die Erneuerung der SPD stehen. Das Beispiel von Bernie Sanders in den USA und von Jeremy Corbyn in Großbritannien zeigt, dass ein Kurs der klaren Alternative dringend herbeigesehnt wird. Die deutsche Sozialdemokratie muss sich nur an die Zeit ihrer größten Erfolge erinnern, als sie selbst mutig jenen dritten Weg beschritt, der damals nicht so heißen durfte, weil das politisch nicht opportun schien: Die Entspannungspolitik, das Konzept einer gemeinsamen Sicherheit in Europa war eindeutig eine Anti-Kriegs-Politik.
Damals wurde die SPD nicht nur geachtet, sie wurde geliebt. Genau genommen haben Willy Brandt und Egon Bahr mit ihrem Konzept damals schon auf jene frühen Signale im Warschauer Pakt reagiert, die ebenfalls einen dritten Weg im Auge hatten und auch nicht so genannt werden durften: der Aufstand in Ungarn, der Prager Frühling, die Anfänge von Solidarnosc mit ihren „runden Tischen“, die einen Kompromiss zwischen Demokratie und Sozialismus suchten.
Der Testfall
Die USPD, die spanische Republik, der Kampf gegen die griechische Militärjunta, der Prager Frühling, Willy Brandts und Olof Palmes Entspannungspolitik, Gorbatschows Glasnost und Perestroika, das sind die gemeinsamen Traditionen in Ost- und Westeuropa, in denen eine neue Einheit der politischen Linken sich gründen ließe.
Seit Donald Trump die westliche Welt verunsichert und destabilisiert, sind die neokonservativen Eliten mit dem Latein am Ende. Rechtsradikale Tendenzen nehmen zu, auch weil niemand den Bevölkerungen ein anderes lohnendes Ziel bietet als den Rückzug in die nationalistische Ära.
Es wäre ein Armutszeugnis für die politische Linke, wenn sie die Frage von Krieg und Frieden, einem friedlichen Ausgleich unter den Völkern, die Forderung von sozialer Gerechtigkeit und ökologischer Zukunftsvisionen ausgerechnet den Rechten überließe. Die Überwindung ihrer einhundertjährigen Spaltungsgeschichte ist ein Testfall der eigenen Friedens- und Zukunftstauglichkeit.
Antje Vollmer, 74, hat in Berlin, Heidelberg, Tübingen und Paris Theologie studiert. Für die Grünen saß sie von 1983 bis 1990 sowie von 1994 bis 2005 im Bundestag, zuletzt war sie Vizepräsidentin des Parlaments. Die gebürtige Westfalin ist als freie Publizistin tätig, unter anderem schrieb sie das Buch „Doppelleben“ über die Hitler-Gegner Heinrich und Gottliebe von Lehndorff. Sie lebt in Berlin.
Dieser Beitrag erschien am 22.10. in der Frankfurter Rundschau und der Berliner Zeitung, hier mit freundlicher Genehmigung der Autorin
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