Die Grünen im Niemandsland
Sie waren einmal die dritte politische Kraft: unangepasst, provokativ, mit radikalen Ideen zur Umgestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft. Eine Partei von modernisierungskritischen Modernisierern, EU-skeptischen Pro-Europäern, antikapitalistischen Marktwirtschaftlern und sozialökologischen Globalisierungsgegnern, die auf unorthodoxe und undogmatische Weise den Platz in der Parteienlandschaft links von der SPD einnahmen, der wegen der historischen Selbst-Desavouierung kommunistischer Formationen nach dem Krieg in Deutschland-West frei geblieben war.
Doch heute, trotz glänzender Voraussetzung in Form vierjähriger Opposition gegen eine Große Koalition, sind Bündnis 90/Die Grünen nur noch die sechste Kraft im Bund – noch hinter der Linkspartei, deren traditionalistisches Verständnis linker Politik samt DDR-Komplex vor 15 Jahren fast vor dem Aus stand. Während die Linkspartei nach Häutung und Zuwachs heute im linken Spektrum neu verankert ist, sind die Grünen in die politische Mitte gedriftet. Dort meinten sie, in einer „Jamaika-Koalition“ mit der rechtsliberalen FDP, der national-konservativen CSU und der Gunst der mächtigsten Frau der Welt zur politischen Gravitationskraft werden zu können. Das aber klappte nicht, wie wir soeben erleben konnten. Doch immerhin: Die Performance reicht seit Jahren für knapp zehn Prozent der Wählerstimmen und die Aufrechterhaltung der Parteiapparatur. Das ist nicht nichts, gemessen am Gründungsanspruch aber zu wenig.
Was also ist schiefgelaufen? War es der aseptische Wahlkampf, die pastorale Rhetorik, die falsche Spitze? Vielleicht auch das, aber dann nicht als Ursache, sondern als Ausdruck der grünen Misere, statt alternativer Politik bloß alternierendes Personal anbieten zu wollen. Die selbstgefällige Attitüde, mit dem Anspielen linksbürgerlicher Kulturmuster die Großstadt-Szene einsammeln zu können, griff zu kurz. Die Befürworter von Ökologie, Verbraucherschutz und Gender*sternchen fuhrwerkten an dem vorbei, was objektive oder subjektive Modernisierungsverlierer bedrückt. Indem das „Großkapital“, anfangs klar definierter Gegner, heute gern gesehener Dialogpartner ist, ließen die Grünen Raum für die völkisch-rassistische AfD und deren Kritik der liberalen Moderne – wenn nicht links-, dann eben rechtsherum.
Das Hauptproblem der Partei liegt darin, dass der grüne Grundwert „sozial“ bis zur Unkenntlichkeit verblasst ist. Es rächen sich heute – und das war bereits damals voraussehbar – strategische Fehlentscheidungen von vor 20 bis 25 Jahren: nämlich die Partei von einer sozial-ökologischen in eine bloß ökologische Bürgerrechtspartei umzumodeln. Die Effekte falscher Weichenstellungen lassen sich manchmal erst Jahrzehnte später bilanzieren, wenn die Akteure von einst längst abgetreten sind und die geschichtsvergessenen Neuen nicht wissen, wie alles anfing. 2016 sind die letzten Sitzungsprotokolle der ersten grünen Bundestagsfraktionen als Sammelband erschienen.[1]
Verwundert stellt eine Zeitungsrezension fest, wie intensiv sich damals Fraktion und Partei mit Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik befassten.[2] Kaum zu glauben angesichts der heutigen Verflachungen. Wären die Grünen bei diesen Themen geblieben, hätten sie ihre Position als ernsthafte linke Herausforderung für die SPD behaupten und eine Ausweitung der PDS nach Westen verhindern können. Gerade letzteres war die zentrale strategische Herausforderung. Die Plädoyers für eine solche Richtungsentscheidung basierten aus der Einschätzung, dass eine Westausdehnung der PDS den Grünen den Großteil ihrer Bedeutung nehmen würde: inhaltlich, weil die Linke in der sozialen Frage entschiedener auftreten würde; strategisch, weil sie die von der SPD enttäuschten Protestwähler auffangen könnte; und kulturell, weil sie das interessantere Momentum in der deutschen Politik darstellen würde. Die grüne, auf einer Betonung der sozialen Frage fußende, PDS-Eindämmungspolitik war anfangs effektiv und wirkte bis Ende der 1990er Jahre fort, obwohl ihre Voraussetzungen in der grünen Politik bereits erodierten. Mit den Wahlerfolgen der „Linken“ im Westen vor etwa zehn Jahren trat dann für die Grünen nicht der GAU, sondern der Super-GAU ein. Zur Erinnerung: Der Super-GAU ist der größte anzunehmende Unfall, der nicht mehr beherrschbar, sondern irreversibel ist. Die soziale Frage, das Kernthema der Linken und der Partei „Die Linke“, wurde zum Feld der epochalen Niederlage der Grünen. Doch es waren die Grünen selbst, die sich ihre reale und potentielle Basis abgruben, wie die „Karriere“ der sozialen Frage in der Partei zeigt.
Ökologisch-solidarische Gesellschaftspolitik
Schon im Gründungsprozess 1979/80 war heftig umstritten, ob das Soziale ein formulierter und fixierter Grundwert der Partei werden solle. Unumstritten war das Ökologische als Hauptmotiv und Alleinstellungsmerkmal in der Parteienlandschaft. Aber um das Ökologische gesellschaftspolitisch einzubetten, musste um die Vorstellung von Gesellschaft gerungen werden. Anfangs war offen, ob die Grünen ein linkes Emanzipations- oder ein konservatives Blut-und-Boden-Projekt würden. Die prosoziale Grundsatzentscheidung bewirkte jedoch, dass sich zahlreiche linke Akteure aus der 1968er-Tradition der Parteigründung anschlossen. Sie organsierten Mehrheiten, die durch programmatische Entscheidungen – wie zur Ablehnung des Paragraphen 218 – die rechten Biologisten abdrängen konnten. Zugleich unterzogen sie sich – wenn auch oft mühsam und sträubend – einem gemeinsamen Lernprozess mit wertkonservativen Umweltschützern.
Traditionalistische Linke hatten zuvor die formelle Seite des Produktionsprozesses im Auge: Eigentumsverhältnisse und Verfügungsgewalt. Ökologen thematisierten die stoffliche Seite der Produktion: natürliche Ressourcen und ihre Verarbeitung. Grüne nun verbanden beides zu einer „ganzheitlichen“ Kritik an der Ausbeutung von Natur und Menschen. Linke machten dabei mit, weil – und nur weil – sie die Möglichkeit sahen, so in dem anschwellenden Massenprotest auch ihre Vorstellungen zur sozialen Frage unterzubringen. Die Grünen besetzten damit den links von der SPD vakanten Platz im Parteienspektrum, ohne eine traditionelle Linkspartei zu sein. Es ging eher um eine kulturelle Avantgarde, um das Selbstverständnis als Vordenker und Experimentierlabor der Gesellschaft. „Ökologisch, sozial, basisdemokratisch, gewaltfrei“ – so lauteten die gleichberechtigten Gründungsideen der Grünen, die das erfolgreichste Neugründungsprojekt einer Partei in der alten Bundesrepublik starteten.
Selbstverständlich erforderten die Zeitläufte auch den Formwandel der Grundwerte. Manche konkrete Idee der Anfangsjahre musste aufgegeben oder weiterentwickelt werden. An den Werten selbst aber hielt die Partei fest. Während Öko-Pax, die Verbindung von „ökologisch“ und „gewaltfrei“, den Gründungsprozess bestimmte, geriet nach dem Abflauen der Friedensbewegung die Verbindung der Grundwerte „ökologisch“ und „sozial“ zum Erfolgsschlager. Forderungen nach umweltverträglichem Wirtschaften wurden in ein „ökologisches und soziales Umbauprogramm der Industriegesellschaft“ gegossen. Erste klimapolitische und globalisierungskritische Konzepte flossen ein in eine Programmschrift für eine „ökologisch-solidarische Weltwirtschaft“. In den grünen Fraktionen wimmelte es von oppositionellen Gewerkschaftern und Betriebsräten.
Auch nach dem Austritt zahlreicher „Öko-Sozialisten“ in der Wendezeit orientierten sich grüne Wahlprogramme an der Idee eines „ökologisch-solidarischen Gesellschaftsvertrags“, angelehnt an den New Deal von US-Präsident Franklin D. Roosevelt. Das Konzept postulierte einen Interessenausgleich zwischen ökologisch orientierten Mittelschichten und benachteiligten Unterschichten, um die vereinigte gesellschaftliche Kraft in politische Macht gegen das Großkapital umzusetzen, das an der ökologischen wie sozialen Misere schuld war. Die Mittelschicht sollte sich für die Ärmeren einsetzen, damit diese die Freiheit gewännen, an der Ökologisierung mitzuwirken, die auch die Lebensqualität der Mittelschicht erhöhte.
Auf dieser Grundlage wurde aktive Verbandspolitik betrieben: Gewerkschaften, lange Zeit Bremser beim ökologischen Umsteuern, wurden durch einen gezielten kritischen Dialog angesprochen, ebenso wie traditionelle Sozialverbände. So wurde erst die gesellschaftliche Basis geschaffen, auf der Rot-Grün als politisches Projekt der sozial-ökologischen Transformation gegen die lange herrschende konservative Regierung entstehen konnte. Wohlgemerkt: Es ging dabei nicht um Zufälligkeiten der Arithmetik, sondern um bewusst organisierte gesellschaftliche Bündnisse. Die Betonung der eigenen sozialen Verantwortung und ein nicht zu übersehendes entsprechendes Engagement unterschied die – soziologisch betrachtet – bildungsbürgerliche Mittelschichtpartei „Die Grünen“ nicht nur von den Ego-Bürgern der FDP. Sie machten die Grünen auch zur Zweitoption vieler SPD-Anhänger, die zu Grün wechselten, wenn sie von ihrer Partei enttäuscht waren. Die grüne Stammwählerschaft lag Anfang der 90er Jahre knapp unter fünf Prozent. Stammwähler plus Rot-Grün mit der Präferenz Grün bei zwölf Prozent, mit der Präferenz Rot bei 25 Prozent. Bis 10,3 Prozent wurde dieses Elektorat auf der Bundesebene ausgeschöpft, nämlich bei der Europawahl 1994.
In den politischen Wirren der deutschen Vereinigung drohte dieses Erfolgsmodell verlorenzugehen. Die Partei spaltete sich tief in konkurrierende Strömungen. Der gerade amtierende ökoliberale Parteivorsitzende Ralf Fücks legte, unterstützt von der Strömung „Aufbruch“, 1990 ein Leitlinienpapier vor, in dem die soziale Dimension völlig eliminiert war. Das „Linke Forum“ schaffte es, gemeinsam mit „kritischen Realos“, diesen Angriff auf den sozialen Grundwert abzuwehren und ihn wieder systematisch in das Papier einzuarbeiten. Dennoch: Zutiefst zerstritten scheiterten die Grünen bei der Bundestagswahl 1990 an der Fünfprozenthürde. Auf dem Parteitag von Neumünster 1991 initiierte der Autor dieses Essays als neuer Parteivorsitzender mit dem „Realo“-Vordenker Fritz Kuhn als Gegenpart ein Einigungspapier der beiden großen Parteiflügel.
Die soziale Frage erhielt wieder ihren konstitutiven Stellenwert. Zugleich wurden die Abkehr vom sozialstaatlichen Traditionalismus und die grüne Verantwortung auch für den Mittelstand betont. Mit dem „Konsens von Neumünster“, von Gegnern als „Burgfriede“ schlechtgeredet, ließ sich leben, für die grünen Linken wie für rot-grüne Wechselwähler.
Bürgerrechtsliberalismus und soziale Frage
Aber dann kam wieder alles anders. Die aus dem Bundestag geflogenen Grünen-West brauchten neben den DDR-Grünen weitere Partner in Ostdeutschland. Im Prinzip bot sich ein breites Spektrum an. Für ein parteiförmiges Engagement aber waren nur wenige zu haben. Letztlich spitzte sich alles auf die Fusion der Grünen mit den Bürgerrechtsgruppen zu, die sich im Bündnis 90 zusammengeschlossen hatten. Trotz der intensiven Solidaritätsarbeit, die grüne Leitfiguren wie Petra Kelly während des Kalten Krieges geleistet hatten, und trotz gemeinsamer Ablehnung des SED-Regimes: Die Fusionsverhandlungen offenbarten höchst unterschiedliche Vorstellungen von zukünftigen Prozessen und gesellschaftspolitischen Zielen. Auch wenn manches überbrückt werden konnte – auf lange Sicht würden die Unterschiede ruinös sein, ahnte manch ein Verhandlungsführer. Doch das öffentliche Sentiment wie auch der innerparteiliche Lobbydruck ließen letztlich keine andere Wahl, als genau diese Fusion emphatisch zu zelebrieren. Ein Scheitern hätte bedeutet, 1994 das Comeback in den Bundestag zu verpassen. Es wäre das historische Aus für die Grünen gewesen. Zahlreiche Bürgerrechtler sträubten sich auch deshalb gegen die Parteiform, weil sie mit der SED schlimmste Erfahrungen gemacht hatten und weltanschaulich quer zum westdeutschen Parteiensystem lagen. Manche von ihnen passten zu den Grünen, andere nicht. Um aber die Westpartei in dem Fusionsprozess, der von gleich zu gleich ablaufen sollte, nicht als Maßstab erscheinen zu lassen, wurde dieser Umstand ignoriert. Die soziale Frage bekam darüber eine paradoxe Funktion: Für viele Bürgerrechtler waren die Termini „sozial“, „sozialistisch“, „SED“, „diktatorisch“ fast deckungsgleich. Das schien vor dem Hintergrund ihrer Erfahrungen nachvollziehbar, bewies aber zugleich die Unkenntnis der anders verlaufenden oppositionellen Diskurse in der Bundesrepublik. Ost-Bürgerrechtler wollten sich keinesfalls als „links“ bezeichnen. Unterstützung bekamen sie von der erwähnten grünen „Aufbruch“-Gruppe, die statt einer Fusion die Auflösung der Grünen und die Neugründung einer explizit nicht-linken, eher liberal-konservativen ökologischen Bürgerrechtspartei betreiben wollte. „Realos“ um Joschka Fischer erhofften sich von der Fusion mit den Bürgerrechtlern, die aktuelle Mitte-links-Mehrheit in der eigenen Partei („Linkes Forum“ plus „kritische Realos“ plus „Unabhängige“) brechen und die neue Formation Richtung gesellschaftlichen Mainstream treiben zu können. Auch wenn Auflösung und Neugründung vermieden wurden – die Fusion ließ zusammenwachsen, was nicht zusammengehörte. Im programmatischen Teil des „Assoziationsvertrags“, der beim Bundeswahlleiter als neues Grundsatzprogramm hinterlegt wurde, machten die Grünen Zugeständnisse auch an solche Bürgerrechtler, die die Grünen zuerst nach rechts zu ziehen suchten, nur um dann selbst zur CDU und heute sogar Richtung AfD zu wechseln.
Für die Linken innerhalb und außerhalb der Partei war das eine Zumutung. Innerhalb der Partei konnten diese Manöver als unvermeidbare Zugeständnisse an die historische Situation kommuniziert werden. Dennoch mussten die Grünen einen hohen Preis zahlen. Zahlreiche Linke, Ökosozialisten, Radikalökologen und sogenannte Fundis verließen die Partei – meist kluge Köpfe und kämpferische Basisaktivisten. Viel Kompetenz in der sozialen und kapitalismuskritischen Dimension ging so verloren oder lagerte sich bei den SED-Nachfolgern an.
Auf der anderen Seite blieben anarcho- und linksliberale Semi-Fundis bei der Sonnenblume, weil sie hier ihre Anliegen – Bürger-, Menschen- und Minderheitenrechte – weiterhin gut aufgehoben sahen. Wegen ihnen wurde das bis dahin entschieden sozial ausgerichtete „Linke Forum“ aufgegeben zugunsten eines „Babelsberger Kreises“, der in diffuser Form alles zu sammeln versuchte, was sich irgendwie als „links“ begriff. Hier bekamen in der Diskussion um Ausländer, Asyl und Rechtsradikalismus peu à peu westdeutsche Linksliberale wie Claudia Roth und Volker Beck wachsendes Gewicht. Persönlich sicherlich nicht unsozial, trugen sie faktisch dazu bei, die soziale Frage nun von links her im grünen Diskurs und äußeren Erscheinungsbild an den Rand zu drängen. Statt der Gleichberechtigung der vier Grundwerte kam es zu einer faktischen Hierarchisierung. Ökologie und Bürgerrechte (das Kondensat des Grundwertes „basisdemokratisch“) dominierten „sozial“ und „gewaltfrei“. Kurzum: Bündnis 90/Die Grünen als ökologische Bürgerrechtspartei ersetzen als Folge der deutschen Einheit die sozial-ökologischen Grünen. Linksliberal statt links: Mit Blick auf PDS/Linkspartei und die eigenen Bündnisperspektiven war das ein entscheidender strategischer Fehler.
Der Fehler wiederholte sich, als im schwierigen Grundwertekonflikt zwischen Menschenrechten („basisdemokratisch“) und Pazifismus („gewaltfrei“) die Waage sich zugunsten des prinzipiellen Ziels „Durchsetzung der Menschenrechte“ neigte, auch unter Verzicht auf Gewaltfreiheit. Dass zur Abwehr eines unmittelbar drohenden Völkermordes auch militärisch eingegriffen werden musste (Kosovo), blieb zwar umstritten, wurde aber auch von vielen Linken, unter anderem dem Autor, nach dem Scheitern aller zivilen Bemühungen für unausweichlich gehalten.[3] Das Konzept des „politischen Pazifismus“ versuchte später, diesem Umstand Rechnung zu tragen. Die sich durchsetzende Mehrheit von „Realos“ aber schaffte Gewaltfreiheit als eigenständiges normatives Politikziel – auch unter dem Druck von Bellizisten wie Ralf Fücks und Daniel Cohn-Bendit – faktisch ab, zugunsten eines Tool-Box-Ansatzes, der zur zivilen Krisenprävention ein ebenso instrumentelles, zweckrationales Verhältnis hat wie zu militärischen Mitteln. So wurde auch dieser Grundwert aus der Gründungsphase geopfert und der Pazifismus-Diskurs an die PDS ausgeliefert, die von ehemaligen NVA-Offizieren bevölkert war, welche zu „Pazifisten“ wurden, als die Nato den Kalten Krieg gewann.
Viele Beobachter, besonders „Realos“, gingen davon aus, dass nach der Wende die SED-Nachfolgepartei PDS langsam durch Absterben und Absorption verschwinden würde, wie nach dem Krieg der „Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten“. Einen aktiven Beitrag der Grünen zur Absorption aber definierten sie nicht. Linke Grüne hingegen plädierten für eine gezielte und differenzierte Politik gegenüber den ehemaligen Parteigängern der DDR. Sie gingen von drei Strömungen in der SED aus: Alt-Stalinisten, die in den Orkus der Geschichte fahren sollten; Sozialdemokraten, für die die SPD zuständig wäre; und eine kleinere Strömung von politischen Modernisierern, die zu gewinnen grünes Ziel sein könnte. Gern hätte man Gregor Gysi angesprochen; doch führende Bürgerrechtler verwickelten ihn lieber in die Stasi-Debatte. Mit den Repräsentanten der DDR-Staatsapparate wollte dagegen kein Grüner etwas zu tun haben. Doch bekannte Bürgerrechtler legten an alle Ostdeutsche eine hohe moralische Messlatte an. Es ging um „das richtige Leben im Falschen“. Sie akzeptierten nur bekennende Oppositionelle. Die Masse der Ex-DDR-Bürger musste an diesem Maßstab scheitern. Linke West- und Ost-Grüne, aber auch einzelne Bürgerrechtler wie Wolfgang Ullmann, waren der Meinung, in der DDR habe es nicht nur Schwarz und Weiß gegeben. Wie in der Bundesrepublik, doch unter schwierigeren Umständen, hätten sich die meisten DDR-Bürger durchgeschlagen, mit kleinen Heldentaten hier und kleinen Opportunismen dort. Sollte man diese Menschen, die man aus Westsicht jahrzehntelang die „Brüder und Schwestern in der DDR“ nannte, jetzt fernhalten, weil sie nicht nachweislich das Gefängnis riskiert hatten?
Jene Bürgerrechtler, die glaubten, quasi per Alleinvertretungsanspruch die richtige Haltung zu DDR-Zeiten zertifizieren zu können, schienen vielen als vermessen. Der allseits verehrte Reformer Michail Gorbatschow konnte doch kein Unikum sein. „1000 kleine Gorbatschows“ habe es auch in der DDR gegeben, vermuteten Grüne; diese gälte es zu gewinnen.
Hinter diesem Plädoyer stand die Analyse, dass man nicht beliebige, unpolitische Kreise für grüne Politik neu interessieren könnte. Man müsse vielmehr den aktiven Kern der ehemaligen DDR-Gesellschaft ansprechen, insoweit er sich nicht durch stalinistisches Gebaren diskreditiert hatte, und in einen kollektiven Lernprozess einbeziehen. Die ökologische Frage müsse mit den Alltagssorgen der Wiedervereinigten verknüpft werden. Denn DM-Euphorie und „blühende Landschaften“ würden bald Ernüchterung und Ödnis weichen. Nur so könnten Grüne eine wirkliche Verankerung in den neuen Bundesländern gewinnen.
Doch die Grünen entschieden sich anders – auch unter dem Druck der CDU/CSU, die ehemalige SED-Mitglieder zu Unberührbaren erklärte, um linke Koalitionen zu verhindern. Die Exklusiv-Fusion von Grünen und Bürgerrechtlern verlor bald ihren Zauber. Es erwies sich schnell, dass Die Grünen nicht mit einer breiten Massenbewegung, mit den Zehntausenden der Montagsdemonstrationen, fusioniert hatten, sondern mit einer interessanten, aber kleinen Gruppe, die erheblich geringere Verankerung im Osten besaß als Die Grünen im Westen. Viele DDRler, die weder zum diskreditierten Kern der SED-Nomenklatura noch zur offenen Opposition gehörten und nun gerne mitgemacht hätten, blieben fern. Das war das Falsche an der Fusion. Nachdem sie sich jahrelang am Fenster zum grünen Kreisverband die Nase plattdrückten, zu Recht zu stolz, sich hochnotpeinlichen Befragungen über ihr bisheriges Leben auszusetzen, gingen manche dorthin, wo sie eigentlich am wenigsten hinwollten – zur SED-Nachfolgepartei PDS. Damit war das Projekt, eine aus der DDR resultierende eigenständige politische Kraft durch Absorption zum Absterben zu bringen, gescheitert.
Vom solidarischen Mitte-links zur elitären linken Mitte
Zugleich war damit vorprogrammiert, dass das Parteiensystem sich nachhaltig zu Ungunsten der Grünen verschieben würde. Doch statt sich mit der einzig erfolgversprechenden Politik dagegen zu wehren, nämlich der prägnanten Betonung der eigenen sozialen Orientierung, des Willens zum Kampf gegen strukturelle Armut und globale Ungerechtigkeit sowie zum politischen Pazifismus, beschloss man aus Angst vor dem Tod den Suizid. Das Soziale wurde der PDS ausgeliefert, grün war ökologisch-bürgerrechtlich. Damit versperrten sich die Grünen nicht nur selbst den Weg nach Osten, sondern luden die PDS geradezu nach Westen ein.
Direkt nach der Bundestagswahl 1994 begann das Verhängnis. Bereits mit seiner Bewerbungsrede zum Fraktionsvorsitzenden drehte Joschka Fischer grüne Grundsätze ins Gegenteil. Arbeitslosigkeit wollte er nicht mit Arbeitszeitverkürzung und Umverteilung, sondern mit liberaler Wachstumspolitik bekämpfen – mit einem Wachstum über drei Prozent, wie es weder zu erwarten noch ökologisch verantwortbar war. Die aufkeimende Globalisierungskritik und grüne Klassiker wie Schuldenerlasse für die Dritte Welt und eine internationale Finanztransaktionsteuer wurden verworfen. Diese Themen wanderten ab in die NGO-Szene rund um Attac. Dann wurde den Öko- und Neoliberalen, die nach dem Verlust linker Mehrheiten in den Landesverbänden in die Bundestagsfraktion eingezogen waren, freie Bahn zum Ausbreiten ihrer Ideenwelt und zum Mobbing von gewerkschaftlich orientierten Abgeordneten und Mitarbeitern gegeben, bis in der grünen Wirtschafts- und Finanzpolitik die soziale von der liberalen Dimension verdrängt und entsprechendes Lob aus der Wirtschaftspresse zu vernehmen war. In diesem Moment schwang sich Fischer zum Retter des Sozialstaats auf. In eher sozialdemokratischer Form erklärte er diesen zur grünen Herzensangelegenheit, für dessen Realisierung aber die SPD zuständig sei, und inszenierte sich so als neue Mitte in einer von ihm selbst nach rechts verschobenen Fraktion.
Bisher hatten Grüne die soziale Frage emanzipatorisch interpretiert: Solidarität mit denen, die strukturell benachteiligt sind und sich von schlecht Behandelten nicht nur zu gut Behandelten, sondern zu selbst aktiv Handelnden, zu politischen Subjekten entwickeln wollten. Nun aber sollte der soziologische Befund, dass Grüne eher der bildungsbürgerlichen Mittelschicht angehören, auch in eine entsprechende Interessenorientierung münden.
Gegen das im „ökologisch-solidarischen New Deal“ angelegte Bündnis von Mitte/Unten setzten die „Realos“ jetzt, von den Mainstream-Medien angefeuert, das von Mitte/Oben und nannten diese Politik grüner New Deal. Ein Namensklau, der den entgegengesetzten Inhalt verschleierte. Im Bunde mit den Unternehmen sollte zur Sicherung des Standortes Deutschland in der globalisierten Konkurrenz nun auch ein grüner Beitrag geleistet werden. Es ging um Entwicklung und Vermarktung von Umwelttechnologie: Ökokapitalismus statt ökologisch-solidarische Gesellschaft. Der wirtschaftliche Erfolg sollte dann auch die Sozialkassen füllen. Das war die Differenz zur FDP: Man war zwar auch oben und gewöhnte sich elitäres Denken an, aber man gab den Armen mehr. So begann die grüne Fraktion ab Mitte der 1990er Jahre eine Politik zwischen Neoliberalismus und konservativ-subsidiärer bis sozialdemokratischer Sozialpolitik. In der politischen Mitte, so Fischer, gäbe es mehr zu holen als links. Die Grünen sollten, statt links-alternative Kleinpartei zu bleiben, durch eine Wendung in die bürgerliche linke Mitte eine mittelgroße Partei werden. Es kam wie absehbar: Nicht Mittel-Partei wurden die Grünen; sondern es ging von Mitte-links zur linken Mitte, zur Mittelschicht, zum Mittelstand, zur Partei der Mitte, des Mittelmaßes, der Mittelmäßigkeit, der Jamaika-Phantasie. Es ging nicht mehr um die strukturelle Bekämpfung von Armut, sondern um die Verschönerung bürgerlichen Lebens.
Ab der Jahrtausendwende erledigte dann die rot-grüne Regierung den Rest. In gewissem Maße war es unvermeidbar. Dass sich Traditionalisten, die Globalisierung und demographischen Wandel nur als Gegenstand von Ideologiekritik behandeln wollen, abwendeten, war nicht zu verhindern. Aber ein Teil des Verlustes an aktiver Unterstützung war hausgemacht. Hartz IV konnte ohne gelungene Hartz I bis III nicht funktionieren, wurde aber – um überhaupt ein Wahlthema zu haben – von der SPD gepusht und von den Grünen hingenommen. Zudem stieß der oft arrogante Diskurs der rot-grünen Führungsriege manchen Unterstützer ab. Wir sind die bessere Elite – das war zu oft die zentrale Botschaft: das Zelebrieren des persönlichen Aufstiegs aus prekären Lebensverhältnissen in die Toskana-Fraktion. Statt die kollektive Emanzipation dessen, was als „Arbeiterklasse“ begonnen hatte und nun Prekariat wurde, zu befördern, provozierte das Abfeiern der eigenen Karriere bei den Zurückgebliebenen die Frage nach dem Wert der eigenen Lebensleistung. Der Verzicht von Rot-Grün auf fundamentale Strukturkritik spiegelte sich bei Modernisierungsverlierern als ein Empfinden des eigenen persönlichen Versagens. Der damit verbundene Frust suchte sich zehn Jahre später rechtsgerichtete Ausdrucksformen namens Pegida und AfD.
Zeit für eine neue, links-ökologische Volkspartei?
Nach dem Ende von Rot-Grün hätte es theoretisch die Chance gegeben, die verhängnisvolle Entwicklung umzudrehen. Aber die grüne Linke war bereits zu schwach geworden. Jürgen Trittin hatte als neuer Anführer der Parteilinken das interne Mitte-links-Bündnis, das ihm zu kompromisslerisch war, bereits seit Mitte der 1990er Jahre zugunsten stärkerer linker Konturen aufgegeben, die Mitte damit an Fischer ausgeliefert und die Parteilinke in die strukturelle Minderheit geführt. Abstimmungssiege auf Parteitagen, früher die Regel, galten nun als bemerkenswert und wurden von Fraktionen und Vorstandssprechern gern ignoriert. Zudem beschleunigte sich der Mitgliederaustausch: Sozialökologen zogen sich zurück, Ökoliberale traten ein, wie Fischer es beabsichtigt hatte. So konnte man dem Wiedererstarken der PDS – im Bunde mit den frustrierten Sozis der WASG als Linkspartei – keinen Einhalt gebieten und wollte es auch nicht. Im Gegenteil: Das Erstarken der Linken galt nun als Grund dafür, selbst in die Mitte rücken zu müssen. Die epochale Niederlage wurde als Chance für Schwarz-Grün schöngeredet.[4]
Noch einmal setzte sich eine linkere Strategie durch, als es Trittin nach dem Abgang von Fischer schaffte, eine soziale Steuerreform 2013 zum Hauptwahlkampfthema zu machen. Doch das Vorlegen konkreter Zahlen und die Überlagerung von verteilungs- und genderpolitischen Zielen gaben Steilvorlagen für allerlei Rechenkunststückchen der politischen Gegner. Diese konnten im Wahlkampfgetümmel, in dem auch Journalisten ihr Taschengeld im Auge haben, nicht mehr gekontert werden. Zudem hatte die grün-interne Entpolitisierung aus der Zeit, als Fischer und Trittin durch den geschäftsmäßigen Abtausch von Positionen jeden strittigen Diskurs unterdrückten, dazu geführt, dass es kaum noch Akteure gab, welche die gesellschaftspolitische Vision hinter der Steuerpolitik plausibel und emphatisch vermitteln konnten.
Am Ende bleibt eine ernüchternde Bilanz: Die Grünen haben sich selbst durch ihren Paradigmenwechsel vor einem Vierteljahrhundert in eine ausweglose strategische Position manövriert, die sie nun tapfer als neue Chance verkaufen. Ihr Schicksal dürfte es aller Voraussicht nach sein, als Kleinpartei einem größeren Konglomerat zur Mehrheit zu verhelfen – ob Rot-Rot-Grün oder Ampel, gar Schwampel, völlig beliebig. Symptomatisch ist, dass die Leitkommentare den Grünen heute keinen eigenen strategischen Willen mehr zutrauen, sondern sie in diversen Arithmetiken einfach mitverbuchen: als Funktionspartei der Mitte. Bei den Jamaika-Sondierungen 2017 konnten (oder wollten) sie denn auch nur wenige inhaltliche Akzente setzen. Um einige Kohlekraftwerke abschalten zu können, was klimapolitisch absolut wünschenswert wäre, akzeptierten sie mit der „Schwarzen Null“ im Bundeshaushalt, dem Verzicht auf eine gründliche Erbschaftsteuerreform und Sanktionen gegen kleptokratische Wirtschaftsmanager eine weitere Verringerung von Umverteilungsspielräumen und die Bildung von Geldadeldynastien. Zum Schluss punkteten sie öffentlich nur noch mit dem Bekenntnis zur staatsbürgerlichen Verantwortung für die Bildung einer Regierung, welcher auch immer: die Grünen als ideelle Gesamtstaatsbürger. War es das, was sie bei ihrer Gründung 1979/80 wollten?
In ihrer heutigen Verfassung jedenfalls bietet Bündnis 90/Die Grünen keine hinreichend attraktive Plattform mehr für Menschen, die eine grundlegende sozialökologische Transformation für nötig halten. Sie werden ihre Banalisierung nur dann überleben, wenn sie, ohne die bürgerrechtlichen Ziele aufzugeben, zu einer ganzheitlichen Kritik ökologischer und sozialer Verheerungen zurückkehren. Wenn zugleich „Die Linke“ ihre nationale Verengung aufgäbe und sich ein zumindest ansatzweise ökologisches Denken zulegte, dann täten sich in der Tat neue Horizonte auf. Was „Grüne“ und „Linke“ heute jeweils als Alleinstellungsmerkmal vertreten – Ökologie hier und soziale Strukturpolitik dort –, kann man auch als komplementäre Defizite ansehen. Wenn sie diese kompensierten und sich ähnlicher würden, entstünde das Momentum, das es braucht, um eine neue sozialökologisch linke Volkspartei hervorzubringen, wie Oskar Lafontaine und ähnlich Antje Vollmer sie dieser Tage vorschlagen.
Die politische Linke muss sich jedenfalls neu formieren, um der seit Jahren dominierenden Gesellschaftskritik von rechts ein aufgeklärtes, realistisches und humanistisches Deutungsmuster entgegenzusetzen. Dieses muss dabei Ärger und Verunsicherung derer aufnehmen, die mit Tempo und Richtung von Modernisierung und Globalisierung nicht klarkommen. Jeremy Corbyn in Großbritannien und Bernie Sanders in den USA liefern dafür interessante Gebrauchsmuster. In der Wissenschaft wird derweil längst die Gestaltung von Post-Wachstumsgesellschaften diskutiert. Yanis Varoufakis will mit einer gesamteuropäischen Linkspartei „diem25“ bei der nächsten Europawahl antreten. Grüne Dissidenten haben derweil Kleinparteien gegründet oder suchen als heimatlose Linke noch immer nach einem „place to be“. Und die Grünen als Partei? Man darf gespannt sein, ob sie den Anschluss an eine neue soziale Linke diesmal wieder verpassen werden.
[1] Die Grünen im Bundestag, Sitzungsprotokolle 1983 bis 1990. Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien (zweimal zwei Halbbände), Düsseldorf 2008 bis 2016.
[2] Vgl. „Sehepunkte“, 6/2017, www.sehepunkte.de.
[3] Ludger Volmer, Kriegsgeschrei und die Tücken der deutschen Außenpolitik, Berlin 2013, S. 94 ff.
[4] Zur Gesamtdarstellung der grünen Parteigeschichte siehe Ludger Volmer, Die Grünen – von der Protestbewegung zur etablierten Partei, München 2009.
Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus den “Blättern für deutsche und internationale Politik” 02/18 (auch online), mit freundlicher Genehmigung von Autor und Redaktion.
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