Ein Film zur Entstehungsgeschichte dieser Republik
Gestern hatte ich Gelegenheit an der Bonner Premiere dieses Films, veranstaltet von der Bonner Kinemathek in der Brotfabrik, teilzunehmen. Die Kinemathek zog dafür auf die andere Rheinseite um: das LVR-Museum hinterm Hauptbahnhof hat einen grösseren Kinosaal. Der wurde auch voll, benötigte noch zusätzlich aufgestellte Stuhlreihen.
Zu sehen gab es Leo Wagner, früherer CSU-MdB, und die Abgründe seines Lebens. Ich hatte ihn vergessen. In meinen persönlichen Erinnerungen spielte er keine Rolle. In seiner Familie dagegen hat er ein umfangreiches Zerstörungswerk hinterlassen, unter dem vor allem die Frauen zu leiden hatten. Sein Enkel Benedikt Schwarzer hat sich der Passion unterzogen, das näher zu erforschen.
Daraus ist etwas Anrührendes und Hochpolitisches entstanden. Vordergründig geht es mit zahlreichen schwarzweissen Archivaufnahmen um die Geschichte der BRD und die massive Auseinandersetzung um die Entspannungs- und Ostpolitik Ende der 60er/Anfang der 70er Jahre. War es Wagner, der Brandt beim Misstrauensvotum 1972 (ich war damals hier in Bonn, auf Klassenfahrt, und habe am anschliessenden Juso-Fackelzug auf dem Venusberg mit 5.000 Menschen teilgenommen) heimlich “gerettet” hat, für 50.000 D-Mark aus der DDR? Einige betagte Zuschauer (nur Männer) störte es gestern in der Nachdiskussion, dass der Film diese Frage nicht “aufklärt”. Im Hintergrund spielt sich jedoch etwas Tieferes ab, das nur wenige Sekunden direkt angespielt wird: als Schwarzer einen alten untergebenen Kriegskameraden Leo Wagners besucht, der gegen Ende des Zweiten Weltkrieges von ihm mittels Bordellbesuchen in die Geheimnisse des Umgangs mit dem anderen Geschlecht, sog. “Frauen”, eingeführt wurde.
Schwarzers Film ist kein “Thesenfilm” und er belässt es bei dieser zarten Andeutung, die den ganzen weiteren Lebenslauf Wagners und der Gesellschaft der BRD kennzeichnen sollte: die Traumatisierung und weitgehende Abtötung der Kommunikationsfähigkeit der meisten Individuen. Ich habe in meinem Bekannten- und Freundeskreis mehrere Menschen, die sich beruflich oder ehrenamtlich in der Betreuung von Flüchtlingen um traumatisierte Menschen kümmern. Nach dem Zweiten Weltkrieg 1945 ff. waren hier fast alle traumatisiert, hatten aber keine professionelle Hilfe, sondern haben sich ihre “Therapie” selbst gebastelt. Durch Abspaltung im Denken und Schweigen im Leben.
Das hat nicht nur sie selbst geschädigt, sondern soziale und kulturelle Erbschäden bei ihren Nachkommen über weit mehr als eine ganze Generation hinterlassen. Die “68er”, im wahren Leben nur eine kleine Minderheit ihrer Zeitgenossen, rebellierten u.a. dagegen, hatten aber nur ein Gespür, keine Analyse für diese Konstellation.
Filmmacher Schwarzer war so klug, sich schon bei der Recherchearbeit für seinen Film von einer Psychologin beraten zu lassen. Am Härtesten muss die ganze Arbeit für seine mitwirkende (!) Mutter, eine bemerkenswert schöne Frau, gewesen sein.
Wenn Sie unser Land, wie es geworden ist, besser verstehen wollen: gehen Sie in diesen Film. Der WDR hat koproduziert; mit einer späteren TV-Ausstrahlung ist zu rechnen (ohne Gewähr, was für einen Programmplatz der Sender dafür aussucht).

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
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