Siegt sich der Neoliberalismus zu Tode?
Die Debatte um den Brexit ist die Symptomatik verbreiteter Ratlosigkeit. Das politische System im Vereinigten Königreich ist nah am Kollaps. Indes gibt es dort einen Vorteil, den es fast allen anderen voraus hat, der aber von den Herrschenden mehr gefürchtet wird als die Apokalypse: eine starke Linkspartei, die zur Machtübernahme bereit sein will, die Labour Party von Jeremy Corbyn. Eine Partei vergleichbarer Programmatik, Mitglieder- und Wähler*innen*stärke gibt es weltweit in keinem anderen Land.
In Brüssel und Berlin ahnen sie, dass alle realistischen Szenarien auch ihr System bedrohen.
Lesen Sie allein mal hier bei Frauke Steffens/FAZ, von wem die bisher grösste politische Bedrohung für die Nato ausging; Russland wars nicht, den Rest werden Sie richtig raten. Die EU, gedacht als gleichberechtigte Weltmacht neben den USA und China, ist vom Zerfall bedroht. Alle Konkurrenten, inkl. Russlands und besonders aggressiv die USA, implantieren erfolgreich Spaltpilze. Die EU machte sich selbst zum Eldorado von globalen Investor*inn*en, Steuerflüchtlingen, Geldwäschern. Die fressen sie nun auf. Viel Demokratie bleibt nicht mehr übrig. Die Wahl des EU-Parlaments Ende Mai ist durch die Brexit-Wirren gefährdet. Und wenn die Wahl stattfindet, wird das Wahlergebnis die EU zusätzlich bedrohen.
Bereits jetzt sind mehrere osteuropäische EU-Mitglieder von Mafia-Seilschaften übernommen; die Bevölkerung wird entweder gegen Schwache aufgehetzt oder hat jedes Vertrauen verloren, oder beides. In Italien ist Ähnliches auf dem Weg, Spanien könnte folgen. Lähmende Ungewissheit liegt über Macrons Frankreich, der innenpolitisch schon so geschwächt ist, dass er aussenpolitisch immer weniger ernstgenommen werden dürfte, auch in Berlin. In Hauptstadtberlin selbst weiss auch niemand mehr weiter. Ein so spektakuläres Interview der strategischen Ratslosigkeit wie Heiko Maas diese Woche, hätte Hans-Dietrich Genscher sicher niemals gegeben. Er hatte immer eine fertige Botschaft, auch wenn sie oftmals in diplomatischer Floskelsprache verborgen war. Aber suchen Sie danach mal bei Heiko Maas.
Der entfesselte Digitalkapitalismus mit seinen aggressiven Kommunikationstechnologien hat, angetrieben durch das Systembedürfnis des Kapitalismus nach Wachstum und Expansion, ein Tempo eingeschlagen, mit dem die kulturelle Aneignung durch die Menschen nicht Schritt halten kann. Während das Aneignen von technischen Kompetenzen immer mehr Geist und Verstand beansprucht, sinken die Kapazitäten für die nicht technisierbaren Formen menschlicher Kommunikation. Das führt zur Anheizung aller arten von Konflikten, denn die Menschen wissen und erfahren immer mehr. Aber welche Lehren sind daraus zu ziehen? Die Antwort erfordert Erfahrung, Empathiefähigkeit, Verhandlungskompetenz, Ichstärke und Kompromissfähigkeit – und die Entwicklung von Solidarität.
Inbesondere Letzteres stört aber die Funktionsweise des Neoliberalismus. “They are casting their problems at society. And, you know, there’s no such thing as society. There are individual men and women and there are families.” sagte die weibliche Messias dieser Ideologie, Margaret Thatcher 1987. Auf wen würde sie heute mit Wohlgefallen blicken? Theresa May? Oder Boris Johnson? Und wie wäre ihre Meinung über Donald Trump? Der “Shutdown” in den USA würde ihr gewiss gefallen. Er kann aus Trumps Perspektive ewig dauern, denn Neoliberale seiner Gewichtsklasse sehen im Staat nur einen Störenfried für ihr Business.
In einem sehr, sehr lesenswerten (oder hörenswerten) Feature beschrieb der Musik- und Popjournalist Klaus Walter das Phänomen Trump gestern im DLF-Kultur so: “Wer als bedeutender Präsident der USA in die Geschichte eingehen will, der braucht einen Signatursatz. ‘Ich bin ein Berliner’, sagt John F. Kennedy 1963 vor dem Schöneberger Rathaus. ‘Mister Gorbatschow, tear down this wall’, verkündet Ronald Reagan 24 Jahre später am Brandenburger Tor. ‘Yes we can!’, sagt Barack Obama bei jeder Gelegenheit. Und sein Nachfolger? ‘You can grab’em by the pussy.’ Diesem Einstieg folgt Walters fundamentale und fulminante Analyse einer offensiven Pornifizierung der Politik durch Trump und die Alt-Right-Bewegung – Sexismus nicht als Makel sondern als Waffe.
Manche*r mag das für eine klassische Perversion degenerierter reicher Länder und Klassen halten. Die machistische Kultur, die Walter hier bei der US-Rechten diagnostiziert, ist aber weltweit und über alle Religionen und die meisten Kulturen verbreitet. Sie hat nur unterschiedliche Vermittlungs- und Erscheinungsformen.
Wenn Sie es lieber klassisch materialistisch sehen wollen, gibt es auch dafür ein Angebot. Knut Mellenthin/Junge Welt gibt eine aktualisierte Darstellung der Fehlleistungen der internationalen Gemeinschaft im Jemen-Konflikt. Es hat die meisten einfach nicht interessiert, sich mit der Wirklichkeit vor Ort auseinanderzusetzen. Darum folgten sie den barbarischen arabischen Feudalcliquen, mit denen sie in New York vielleicht die gleichen Parties besuchen, die dort eine grausame, vor Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht zurückschreckende Agenda verfolgen.

Was nun?

Deutschland ist zwar selbst bereits destabilisiert. Die Gefahr ist nicht gering, dass das konservativ-liberale Bürgertum sich mit Rechtsradikalen verbündet, wie es in diesem Land schon mal geschehen ist. Es ist aber noch zu verhindern. Dafür muss die Mehrheit des Bürgertums in ein fortschrittliches die Demokratie verteidigendes Bündnis gezogen werden. Das könnte die historische Schlüsselrolle für die Grünen werden – wenn sie nicht nur schlau, sondern auch klug sind. Dieses Bündnis müsste parteipolitisch von Teilen der CDU, der CSU (ja, auch der!) bis zu den politikfähigen Teilen Linkspartei reichen; wichtiger als diese gesässgeografische Zuordnung der Parteien wäre aber die Übersetzung in gesellschaftliche Bündnisse.
Dieses Deutschland müsste europapolitisch einen Schnitt machen gegenüber seiner autoritären ökonomieideologisch verblendeten Schäuble-Periode. Schluss mit der Erpressung demokratisch gewählter Regierungen, so weit sie bereit sind Demokratie, Bürgerrechte und Gewaltenteilung zu achten. Unterstützung und Ermunterung statt Repression für emanzipatorische Initiativen und Bewegungen. Dieses Deutschland müsste Schluss machen mit dem lukrativen Export von Krieg und Massenmordtechnologien. Es müsste und könnte stattdessen zum globalen Premium-Anbieter moderner Technologien, die Bürgerrechte und Datenschutz zu ihrem Markenkern machen, werden – und nur dann zu einer Konkurrenz für die Überwachungsmächte aus China und Kalifornien.
Es gibt in aller Welt mehr oder weniger starke, demokratische Bewegungen, die solche Bedürfnisse artikulieren. Es kann sein, dass die US-Demokrat*inn*en eine entsprechende Person zur Kandidatur gegen Trump finden. Es kann sein, dass Labour im UK einen Weg an die Regierung findet. Es kann sein, dass Melenchon gegen Le Pen im Kampf um die Macron-Nachfolge den Längeren zieht. Portugal ist schon da. Andere machen die gleichen Fehler, wie die deutsche Linke: Spaltung und Partikularismus, Terror der individualistischen Soziopathen – Zustände bei Linken, wie …. bei den britischen Konservativen 😉
Nichts davon ist zwangsläufig.

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
Sie können dem Autor auch via Fediverse folgen unter: @martin.boettger@extradienst.net