2009, nach dem Selbstmord von Robert Enke hatte ich schon auf dem Bonner Marktplatz bemerkt, an der Espresso-Bude der Freundinnen, die heute das Restaurant Mademoiselle in Endenich betreiben, dass wildfremde Menschen den Mut fassten, öffentlich über ihre Depressionserkrankung zu sprechen. Das war damals schon ein wichtiger emanzipatorischer Schritt. Jetzt mehren sich öffentliche Auftritte, in denen professionelle Leistungssportler*innen öffentlich über ihre Krisensituation bis hin zum Rücktritt sprechen – ebenfalls ein grosser Fortschritt, der in Einzelfällen lebensrettend sein kann.
Ich bin darum der Überzeugung, dass nicht nur 2009 ein paar Tage Sonntagsreden gehalten wurden, und dann alles so weiterging wie vorher. Für das Profi- und Leistungssportsystem mag das so aussehen. Aber immer mehr Rädchen in diesem System weigern sich, sich weiter mitzudrehen. Das ist ein gutes Zeichen.
Es gleicht ein wenig den untergründigen aber tiefgreifenden Wirkungen der #metoo-Bewegung. Die Opfer merken, dass sie nicht allein sind. Sie schweigen und leiden nicht mehr in sich hinein, sie sprechen. Irgendwann organisieren sie sich sogar in Gruppen, benennen Verantwortliche und stellen Forderungen. Das verändert nicht nur den Sport, sondern die Gesellschaft. Zum Positiven.
Eine avantgardistische Rolle hat Per Mertesacker gespielt. Der Weltmeister von 2014 sprach öffentlich von seinen eigenen Leiden (im Original immer noch hinter der Spiegel-Bezahlmauer – hauptsache nichts dabei denken). Er hat aus dem Fall Enke gelernt. Denn er hatte in Hannover noch zwei Jahre mit ihm in einem Team gespielt, danach noch eine grosse Karriere hingelegt. Heute wissen wir, und zwar von ihm selbst: das meiste davon war nicht so schön, wie es aussah.
Damals war übrigens schon ein gewisser Martin Kind Boss von Hannover 96. Der ist es auch heute noch, und gehört zu denen, die aus dem Fall Enke absolut überhaupt nichts gelernt haben. Für die verbliebene Macht der Gerechtigkeit spricht, dass er seinen Krieg gegen die “eigenen” Fans so drastisch verloren hat, dass er sogar 2016 den Bundesligaabstieg in Kauf nehmen musste; seine Investorenfreunde vom Drogisten Rossmann bis zum Ex-Bundeskanzler Schröder können halt die Tore nicht selber, aber eine Mannschaft wirkungsvoll zerschiessen. Mit André Schürrle und Benedikt Höwedes sind Mertesacker weitere 2014-Weltmeister in offener Aussprache und Karrierebeendigung gefolgt. Vernünftige Kerle, die erkannt haben, dass es Wichtigeres gibt als Leistung und Kapitalvermehrung.
Sehr erhellend war gestern Abend ein DLF-Interview von Marina Schweizer mit der Leichtathletin Jackie Baumann. Sie macht schon mit 24 Schluss. Ich kannte sie bisher nicht. Aber ihre Ausführungen gehen als Signal für Selbsterkenntnis und Vernunft in meine Erinnerung ein. Welchen Grund sollte es für sie geben, sich selbst zu quälen, oder von erwartungsvollem professionellem und sozialem Umfeld quälen zu lassen? Anschaulich beschreibt sie, ohne damit die Welt oder auch nur de Sportwelt erklären zu wollen, dass sie persönlich für Leistung durch Druck und Konkurrenz nicht geschaffen ist.
Es bleibt abzuwarten und ggfls. zu erforschen, wieviele Menschen jetzt in der Coronakrise auf vergleichbare Gedanken kommen. Eindrücke verstärken sich, dass hierzulande die Konsumlust nicht nur wegen unsicherer Zukunftsaussichten stark nachgelassen hat. Für mich kann ich das bestätigen (ausser bei Wein und gutem Essen); ich weiss z.B. schon gar nicht mehr, wann ich mir zuletzt ein neues Textil gekauft habe, in Beuel gibts für Jungs ja auch gar keinen Laden mehr dafür; Unterhaltungselektronik/Elektrowaren sind auch weg (nächster Laden in Mondorf), und gegen Media- und Baumärkte habe ich eine Allergie (Amazon sowieso). Immer höher, immer weiter, immer mehr – Parolen von gestern.
Andreas von Westphalen hat zuletzt in mehreren Texten für das Onlinemagazin telepolis die Grundsatzfrage diskutiert, ob der Mensch “von Natur aus” ein Konkurrent, oder eher ein altruismusfähiges Sozialwesen ist. Das ist eine Grundsatzfrage, nicht nur für den Sport, sondern auch für das Gesellschaftssystem.
Wenn Robert Enke irgendwo im Himmel auf das Geschehen herabsehen sollte, sei ihm übermittelt: Du hast uns geholfen. Schöner wäre, Du wärst noch bei uns. Aber danke für alles.
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