Digitale Bildbearbeitungen fingen als kreative Kunst an, und sind bei der Zurichtung konkurrenzfähiger Jugendlicher gelandet
Feine Recherche von Tate Ryan-Mosley bei MIT Technology Review/heise: Warum Schönheitsfilter ein Massenexperiment an Mädchen und jungen Frauen sind – Der am weitesten verbreitete Einsatz von Augmented Reality ist nicht in Spielen zu finden: Es sind die Gesichtsfilter in den sozialen Medien. Das hat Folgen.”
Die heute massenhaft gebräuchlichen Bildbearbeitungsprogramme wurden einst aus emanzipatorischen, kreativ-künstlerischen Motiven entwickelt. Der profitorientierte Kapitalismus adaptierte sie dann, wie jede Technik, für seine Systemzwecke. Zu denen zählen: Konkurrenz der Individuen (gegen kollektive Solidaritäten), Selbstoptimierung der Individuen um des kapitalistischen Erfolges willen. Wer dabei auf der Strecke bleibt, hat verloren, Pech gehabt, tschüssi …
Angesichts dieses Systemüberbaus wäre es ein Fehler überforderter Eltern und Lehrer*innen, der bösen Technik die Schuld an diesen schlimmen Auswüchsen zu geben. Die Kinder halten uns Alten nur den Spiegel der Gesellschaft vor, in der “wir” sie aufwachsen lassen. Natürlich adaptieren sie neue Techniken schneller als Ältere. Ihr Verstand ist ja noch im Bau, während unserer ein schwer zu sanierender Altbau, in dem wir vieles unter Denkmalsschutz stellen, ist. Denkmalsschutz ist ambivalent. Erhaltenswertes soll bleiben, aber nicht in Innovationsfeindlichkeit umkippen.
In der jugendlichen Anwendung der AR-Technik ist zu erkennen, dass sie sich fit machen für die Gesellschaft, die ihnen übergeben und hinterlassen wird. Um sie besser zu machen, hilft nicht das aussichtslose – klassisch protestantische – Bekämpfen von Technik. Sondern die weit aussichtsreichere, aber langfristige Überwindung real und digital existierender sozialer Herrschaftsverhältnisse.
Solche Herrschaftsverhältnisse definieren, was Schönheit ist, und wer darüber mehr bestimmt als andere. Emanzipatorische Gegenmacht kämpft für ein solidarisches, diverses Schönheitsverständnis. Predigen von der “inneren Schönheit” ist eher ein Symptom der Ratlosigkeit und Vergeblichkeit. Schönheit ist zur Verschönerung des Lebens gedacht, nicht zur Erschwerung und kapitalistischen Konkurrenztyrannei. Daran ist sie zu bemessen. Für das eigenständige Urteil darüber brauchen Kinder Ich-Stärke und Kraft zur Autonomie.
Wer Kinder, Jugendliche, Schüler*innen dafür ausrüstet, hilft ihnen damit automatisch bei einer emanzipatorischen Anwendung von Techniken, mit denen ich, und viele meiner Altersgenoss*inn*en, aus guten Gründen gar keine Lust habe mich noch praktisch zu beschäftigen. Das ist der Luxus der Rente.

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
Sie können dem Autor auch via Fediverse folgen unter: @martin.boettger@extradienst.net