Zum Glück nicht mehr vollständig ignoriert. In Deutschland war ein Schlüsselereignis der Tod von Robert Enke. Als sei ein Knoten geplatzt, wagten nicht wenige Erkrankte plötzlich öffentlich darüber zu sprechen. In meiner Kindheit rangierte die “Klapse” noch unter Gefängnis und Zuchthaus. Und noch in der Neuzeit der BRD nannte der hochgeschätzte Herbert Knebel eins seiner unübertroffenen Kabarettprogramme: “Ich glaub, mich holnse ab“. Carina Schroeder/DLF-Kultur hat sich des Themas ernsthafter angenommen.
Was Frau Schroeder präsentiert, ist eine Massenerkrankung, einer Seuche nicht unähnlich, die – Machtgefälle! – Frauen signifikant mehr erwischt als Männer. Warum sprechen wir “Normalen” so ungern darüber? Es gibt eine unbewusste Furcht, dass es diese Kranken sind, die die Welt erkennen. Wer sich “zu sehr” damit beschäftigt, gerät in Ansteckungsgefahr. Die Beschäftigung mit der Krankheit, als Kranke*r, Angehörige*r, Therapeut*in verspricht weder Vergnügen noch gute Unterhaltung.
Politisch betrachtet bleibt es jedoch bis heute ein Skandal, dass diese, wie Schroeder richtig benennt, “Volkskrankheit” nahezu keinen gesellschaftspolitischen Stellenwert erobert hat. Allenfalls als “Burnout”, also als Nichtfunktionieren der Produktivkraft Arbeit (“human ressources”), hat sie öffentliche Diskursflächen gelegentlich erreicht. Wie Schroeder ebenfalls herausarbeitet: während fast alle Bundesbürger*inn*en einen Zwangs-VHS-Kurs über Coronaviren absolviert haben, und die sich damit beschäftigenden Wissenschaftler*innen zu Medienstars avancierten, weiss “die Wissenschaft” über Depressionen fast nichts. Ihre Diagnose und Nichtdiagnose basiert auf gesundheitspolitischen Setzungen, kaum objektiven Erkenntnissen.
Sehr zeitgerecht weist Oliver Tolmein/Jungle World auf die gemeinhin unterschätzte gewaltige Relevanz von GesundheitsPolitik hin.
Wenn Sie heute besonders vom Trübsinn gefährdet sein sollten, trösten Sie sich mit dem Antonio Gransci von 1916, ein grosser weiser Mann der Menschheitsgeschichte. Bemerkenswert, dass und wie er 1916 das Medium “Kino” erwähnte. Das war seinerzeit jünger, als es heute die asozialen Medien sind.
Ich verbrachte gestern noch einen sehr angenehmen Abend in netter Gesellschaft in Köln. Es wurde noch mal alles erörtert, was derzeit Thema ist. Mir war, die um uns neugierig herumlaufende 9-jährige Katze war der in der taz-kolumnierende verkleidete Robert Misik, ein weiser Österreicher unserer Tage. Er hat uns belauscht, und bekam den Auftrag, es in wenigen taz-Zeilen zu verdichten. So ähnlich war das, was wir geredet haben. Und wenn Ihnen das zur Gemütsaufhellung nicht genügt, empfehle ich weiterhin den Kollegen Küppersbusch, dessen Weltdeutung zu der Erkenntnis beiträgt, dass Sie nicht allein sind im Ärger (Politik), Zorn (Medien) und Verzweiflung (Borussia) – aber die Welt trotzdem noch nicht untergegangen ist.

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
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