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Aufrecht

Von der Öffentlichkeit kaum beachtet erheben sich die Abgeordneten des Bundestages dann, wenn der Sitzungsleiter den Saal in Richtung Präsidentenplatz betritt. Auch bei der Verabschiedung von Gesetzen stehen sie auf – getrennt nach Ja, Nein und Enthaltung. Seit jüngerer Zeit zunehmend greift die Sitte des Aufstehens aber auch bei anderen Gelegenheiten um sich. Die Abgeordneten erheben sich, wenn ihnen rhythmischer Beifall zu wenig scheint: als Ausdruck von Respekt, Rührung, Zustimmung und auch schlechtem Gewissen.

Ob es daran liegt, dass – Corona wegen – Präsenzparteitage nicht mehr stattfinden und sie gefühlige Gesten nur noch virtuell daheim am Laptop ausleben können? Auf Parteitagen wird das organisiert. Nach einer Bewerbungs-, Abschieds- oder Wahlkampferöffnungsrede reißt es scheinbar spontan die Freunde des Redners und die Mitglieder seines Landesverbandes hoch, dann die Delegierten, die später die Unterstützung der Frühaufsteher brauchen, und schließlich alle, um bloß nicht Störenfriede zu sein. Sitzenbleiben hatte schon in Schulzeiten einen Hautgout. Der volksnahe Teil der Abgeordneten kennt es vom Fußball her. Wenn die Hardcore-Fans von den Stehplätzen ihr „Steht auf, wenn ihr – Schalker, Bayern, Kölner – seid!“ singen, sollten sich tunlichst auch die Leute auf der Ehrentribüne erheben.

Aufstehen ist auch ein Instrument der Auseinandersetzung. Für Angela Merkel standen die Abgeordneten (außer die von der AfD) auf, als sie bei der Wahl von Olaf Scholz zum Kanzler auf der Gästetribüne saß – wie zu einem „Wir werden Sie noch vermissen“-Zeichen. Für Gerhard Schröder, der bei gleicher Gelegenheit erschienen war, taten sie es nicht. Sie erhoben sich zuletzt regelmäßig dann, wenn der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk erschien, was als Mischung aus Solidarität und Wiedergutmachung wirkte, obwohl (oder weil?) dieser keine Talkshow ausließ, die deutsche Russland-Ukraine-Politik zu geißeln. Als Scholz das 100-Milliarden-Programm für die Bundeswehr ankündigte, stimmte die die CDU/CSU-Fraktion stehend zu, weil sie das gut fand, vor allem aber gucken wollte, ob die SPD etwa sitzenblieb, was die natürlich nicht tat. Dass der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj mit einer Standing Ovation geehrt wurde, war selbstverständlich, auch wenn er – wie sein Botschafter – Scholz und Merkel die Leviten („Wirtschaft, Wirtschaft, Wirtschaft“) las. Manchen reichte das Aufstehen nicht. Vor allem der deutsche Salonbellizismus vermisste Empathie und war empört, dass der Bundestag seinen Auftrag als „Arbeitsparlament“ erfüllte und zur Tagesordnung überging.

Zu erinnern ist an den 25. September 2001. Wladimir Putin trat im Bundestag auf. Mit einer Rede, die nachhaltig wirkte? „Wir sind natürlich am Anfang des Aufbaus einer demokratischen Gesellschaft und einer Marktwirtschaft“, sagte Putin. Nicht nur Schröder und Merkel waren damals dabei, sondern aus dem Kabinett von heute auch die jungen Abgeordneten Scholz, Christine Lambrecht, Hubertus Heil, Cem Özdemir und Steffi Lemke sowie – auch damals als Oppositionsführer – Friedrich Merz. Im Plenarprotokoll steht: „Anhaltender Beifall – Die Abgeordneten erheben sich.“

Über Guenter Bannas / Gastautor:

Günter Bannas ist Kolumnist des Hauptstadtbriefs. Bis März 2018 war er Leiter der Berliner Redaktion der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Seine Beiträge sind Übernahmen aus "Der Hauptstadtbrief", mit freundlicher Genehmigung.

Ein Kommentar

  1. Tina Arndt

    1982, am 9. Juni hielt Ronald Reagan eine Rede im Deutschen Bundestag. Ich arbeitete damals als Mitarbeiterin eines Abgeordneten. Die Diskussionen auf der 16. Etage waren heftig: Steht man auf, wenn Reagan den Plenarsaal betritt, oder nicht?
    Ich fand einen Sitzplatz auf der Besucher-Tribüne und versicherte meinem Sitznachbarn, dass ich keinesfalls aufstehen würde. Er war sich unsicher. Dann kam Reagan, alle Abgeordneten (ausser Manfred Coppik und Karl-Heinz Hansen, die sogenannten Abweichler in der SPD) erhoben sich. Alle auf der Besuchertribüne auch. Ich blieb sitzen. Blitzschnell stand ein befrackter Saaldiener neben mir und befahl mir, aufzustehen. Ich fragte ihn, warum? Er: “Weil das so in der Geschäftsordnung steht!”. Ich kannte die GO ziemlich gut, mein Mann hatte darüber promoviert und ich hatte sie x-mal getippt (das machten Ehefrauen damals noch sehr oft). Also sagte ich dem Saaldiener, er solle mir den Paragraphen in der GO doch mal zeigen. Er stiefelte los, wahrscheinlich fand er kein Exemplar. Jedenfalls kam er mit grimmigem Gesicht zurück, da setzten sich alle wieder. ( Die Rede findet man bei YouTube.)

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