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Vorher – nachher

Wer der täglichen Übersichtskarte des „Spiegel“ zum Ukrainekrieg Vorher-Nachher-Bilder entnimmt und zum Beispiel den 28. März mit dem 5. April vergleicht, hat erst einmal einen sehr erfreulichen Anblick.

Die russische Armee hat sich aus weiten Teilen der Nord- und Nordostukraine zurückgezogen – nach offenkundig heftigen Verlusten und dem gescheiterten Versuch, Kiew einzunehmen. Aber der Krieg ist noch nicht zu Ende. Man muss sich vor allem auf zwei Dinge einstellen:

1. In den Räumen, aus denen sich die russische Armee zurückzieht, werden womöglich noch weitere Butschas entdeckt. Denn es gab auch in den anderen russischen Kriegen der letzten Jahre schon viele Butschas. Das Massaker gehört inzwischen offensichtlich zum Standardrepertoire der russischen Kräfte. Die Faktenlage zu Butscha selbst wird jetzt immer dichter. Viele Augenzeugenberichte sind bereits dokumentiert, es tauchen zeitlich und örtlich datierbare Videos auf, in denen Morde der russischen Armee an ukrainischen Zivilisten im Besatzungsgebiet festgehalten sind. Augenzeugen berichten zudem, dass in der Stadt während der russischen Besatzung im Vergleich zu den jungen russischen Soldaten deutlich ältere und anders uniformierte Männer aufgetaucht seien und besonders grausam unter der Zivilbevölkerung gewütet hätten. Dem Anschein nach waren es FSB-Männer, also Kader aus Putins eigenem Geheimdienststall (man erinnert sich an die Genealogie dieser sehr speziellen Truppe in ihren Hauptetappen: Tscheka -> GPU -> NKWD -> KGB -> FSB, Leiter 1998-99: Wladimir Wladimirowitsch Putin). Da würde auch der geheimdienstliche Ausdruck „Spezialoperation“, den Putin für seinen Ukrainekrieg verwendet, einen sehr besonderen Sinn erhalten. Ebenso wie auch die Hybridisierung seiner Kriege, die er schon länger betreibt. Angesichts der erdrückenden Faktenlage sind es jetzt nur noch recht dumpfe Kreise, sowohl links wie auch rechts im Spektrum, u.a. der AfD-Parteivorstand, die Lawrows Lügenmärchen vom Massaker in Butscha als ukrainischer Propagandaaktion wiederholen. Dass es sie jedoch immer noch gibt, lässt mich schon etwas fassungslos zurück.

2. Der russische Rückzug dürfte wahrscheinlich zur Umgruppierung und zur Auffrischung der Kräfte dienen, um im Osten und Süden der Ukraine dann noch härter zuschlagen zu können. Deshalb gilt es, die ukrainische Armee jetzt nach Kräften mit dem nötigen Material zu unterstützen. Und das ist insbesondere auch schweres Bodengerät, um nicht nur defensiv handeln zu können, sondern um auch eine Chance zu haben, der russische Armee auch offensiv etwas entgegensetzen zu können. Und zusätzlich müssen es Mittel sein, die dazu beitragen, dass aus der russischen Luftüberlegenheit keine Luftherrschaft wird. Es geht – vulgo – auch um Flugzeuge.

Ob die Ukraine diesen Krieg gewinnen kann, weiss ich nicht. Sie hat aber gezeigt, dass sie dem Angriff so viel entgegensetzen kann, dass der Preis für die russische Seite extrem hoch wird – und im Verein mit hoffentlich bald noch stärkeren westlichen Sanktionen dann womöglich unbezahlbar. Je mehr die Ukraine der Aggression entgegenzusetzen hat, umso schneller wird diese Einsicht hoffentlich auch auf russischer Seite reifen.

Die Politik der deutschen Regierung gegenüber der Ukraine war lange Jahre schändlich. Botschafter Melnyk kennt noch viel mehr Details als wir. Problematisch ist, dass das nicht nur von einer Querfront aus AfD-Trollen und einigen Wagen-Knechten getragen wurde, sondern aus dem Herzen des politischen System, von einer SPD, der Partei einer einst epochemachenden Ostpolitik, bis hin Zur Union und Kanzlerin Merkel. Das war fast ein Total-Blackout der deutschen Politik. Gerade jetzt, in dieser etwas weniger aktiven Phase des Krieges, kann Deutschland einiges wieder gut machen und engagiert helfen, damit die ukrainische Armee auf den nötigen Stand kommt. Ohne eine starke und abschreckende ukrainische Armee und starke internationale Sicherheitsgarantien wird es in dieser Region keinen Frieden geben.

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Über Reinhard Olschanski / Gastautor:

Geboren 1960, Studium der Philosophie, Musik, Politik und Germanistik in Berlin, Frankfurt und Urbino (Italien). Promotion zum Dr. phil. bei Axel Honneth. Diverse Lehrtätigkeiten. Langjährige Tätigkeit als Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Referent im Bundestag, im Landtag NRW und im Staatsministerium Baden-Württemberg. Zahlreiche Veröffentlichungen zu Politik, Philosophie, Musik und Kultur. Mehr über und von Reinhard Olschanski finden sie auf seiner Homepage.

5 Kommentare

  1. A.Holberg

    Wie wäre es, wenn man, bevor man die ukrainische Armee und die faschistischen Milizen wie dir Asow-Leute weiter bewaffnet, die Bewohner der russophonen Gebiete im Osten fragen würde, ob sie von diesen Kräften überhaupt “befreit” werden und überhaupt ukrainische Bürger sein wollen? Bei den Kosovaren und fen übrigrn Völkern Ex-Jugoslawiens lag “uns” das nazionale Selbstbestimmungsrrcht doch so sehr am Herzen.

  2. W.Nissing

    Mit Verlaub Herr Olschanski, Ihre Ergüsse sind dieses Blog unwürdig.

    • Martin Böttger

      Auch dieses Mal wäre in Argument schön. Die Verrohung des Streits hilft niemandem.

  3. Reinhard Olschanski

    Ja, Argumente wären gut.

    Leider bewahrheitet sich der 1. Punkt aus meinem Text, dass nämlich zu befürchten steht, dass nun weitere Rutschas entdeckt werden. Genau das geschieht augenblicklich. Im Moment kann man nur erschüttert sein. In einigen Wochen werden Forensiker und Aktive aus Organisationen wie Human Rights Watch die Vorgänge in einer hoffentlich gerichtsfesten Form dokumentiert haben. Auch verbrecherische Tötungen von gefangenen russischen Soldaten auf ukrainischer Seite werden bekannt. Auch das ist abscheulich und natürlich darf es keinen „Rabatt“ für Verbrechen geben, die von der überfallenen Partei begangen werden. Auch das ist verwerflich und muss verfolgt werden.

    Zum Hintergrund der Vorgänge in Butscha gibt es eine gute Einordung des Sicherheitsexperten Jack Watling vom renommierten RUSI, der erklärt, dass es sich bei den Tötungen in Rutscha um mehr handelt als bloß krude Bestialität, sondern dass in der russischen Kriegsführung wiederholt schon eine traditionelle Idee der „kollektiven Bestrafung“ sichtbar geworden ist (s. link unten): man terrorisiert zur Strafe/Abschreckung halt eine ganze Stadt, wenn man dem Gegner sonst nicht beikommen kann:

    https://www.spiegel.de/ausland/ukraine-krieg-militaerexperte-jack-watling-zu-graeueltaten-von-butscha-das-war-geplant-a-7397277a-43ac-408c-997a-8997023fd370

    Der 2. Punkt meines Textes betrifft Erwägungen zur militärischen Lage. Auch hier liefert Watling gute Hinweise. Aus meiner Sicht (und der des Völkerrechts) hat die Ukraine jedes Recht, sich zu verteidigen. Sie ist Opfer eines verbrecherischen Angriffskriegs, der sich an der Grenze zu EU ereignet. Die Länder der EU müssen der Ukraine helfen – aus humanitären und völkerrechtlichen Gründen – aber auch aus Selbstschutz. Das ist die Einsicht, die mir als altem Kriegsdienstverweiger und Verächter des Krieges nicht ganz leicht fällt, die aber etwas beschreibt, was jetzt nötig ist.

    Was mich übrigens sehr bewegt, ist, dass auch Vertreter der Kunstszene und LSGBQ-Szene sich zum Militär melden und für die Unabhängigkeit der Ukraine kämpfen. Sie wissen wohl sehr gut warum.

  4. w.nissing

    Ich erspare mir, näher auf Ihre Auslassungen ein zu gehen. Dazu haben sich schon Viele mit besseren Worten wie ich das könnte hier und auch auf anderen Portalen geäußert.
    Nur 2 Anmerkungen: Die Ukrainer haben alles Recht, sich zu verteidigen, sie sind in der Notwehrsituation. Nach meiner unmaßgeblichen Meinung sind die Ukrainer aber nur Spielball auf dem großen Geopolitischen Schlachtfeld. Um das zu verschleiern wird ein gigantisches Spiel mit Emotionen und Propaganda betrieben. So gut wie alles, was ich aus der vornehmlich westlichen militärischen Perspektive hierzu gelesen habe, stuft das bisherige als “relativ Verlustarm” ein.
    Wir könnten das Blutvergießen relativ schnell beenden, wenn uns daran gelegen wäre.

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