Wundersame Bahn CXXXII

Das kennen Sie sicher. Wenn Sie das Schlimmste erwarten, kann es nicht mehr schlimm kommen. Wer sich am 11.11. in die Bahn begibt – im Rheinland! – weiss, was er tut. So geschah es. Am Hauptbahnhof teilte mir die Anzeigetafel mit: “Der Zug fällt aus”. Normal. Automatische Reaktion des Nervensystems: was steht gerade auf Bahnsteig 1 Richtung Norden? Oh, nichts. Aber ein RE5 nach Wesel steht auf Gleis 2, also Tempo!

Sicher, der war etwas voll. Nicht an jeder Tür war einsteigen möglich. Aber bemerkenswert: wer nach Köln wollte, noch nicht von dort kam, war (noch) nicht betrunken. Es war laut, es war schlechte Musik. Aber es war (noch) nicht aggressiv, im Gegenteil, alle waren nett zueinander. Die Mehrheit Altersgruppe ca. 15 Jahre alt. Schule war vorbei, es ging nach Köln zum einen draufmachen.

Mit ca. 25 Minuten Verspätung erhielt der Zug Abfahrterlaubnis. Damit lag er etwa 15 Minuten vor meiner eigentlich geplanten Abfahrt. Was sollte also schiefgehen?

Nächster Halt Brühl. Oh, das sind aber viele, die noch mit wollen. Das Einsteigen dauerte. Dann zogen einige Security-Leute durch den Zug und gaben bekannt, dass er ohne Halt bis Leverkusen durchfahre. Es dauerte etwas, bis sich das unter den Fahrgästen rumsprach. Überall, wo es ankam, löste es Panik aus – und Aussteigen, ausser bei mir. Andere betonten: der Lokführer habe was Anderes gesagt, was nur nicht zu hören war, weil s.o. laute Musik. Der wiederholte: der Zug halte in Köln-Süd, nur nicht am Hauptbahnhof. Wieder stiegen nicht alle, aber die meisten wieder ein. Sie wollten zum Quartier Lateng.

Dann erneute Durchsage mit eingebauter Entschuldigung: jetzt sei es umgekehrt. “Polizeieinsatz in Köln-Süd”, Umleitung auf andere Gleise, nächster Halt im Hauptbahnhof. War jetzt allen egal, hauptsache weiterfahren.

Auffällig unter den 15-jährigen: Regie führten in all dem Chaos die Mädchen. Die Jungs soffen die ersten Pittermännchen, um sich Mut anzutrinken. Die Mädels waren quasi in der Rolle der Erziehungsberechtigten.

Ab Kalscheuren verringerte Geschwindigkeit, vor Köln-Süd halt. Ein doppellokbespannter Güterzug kam uns im Schritttempo entgegen. Dann endlich Durchfahrt: die Bahnsteige in -Süd menschenleer und übersät mit vollen Müllsäcken. 2-3 Menschen reinigten die Bahnsteige vom Unrat. Unter uns auf der Luxemburger und der Zülpicher Strasse unübersehbare Menschenmassen. Der Bahnhof Köln-Süd ist schon im normalen Alltagsbetrieb gemeingefährlich, weil es von der Zülpicher Strasse einen Zugang nur zum Bahnsteig in nördliche Fahrtrichtung gibt. Leute, die nach Süden wollen, überqueren darum illegal die Gleise. Erst recht, wenn sie besoffen sind. Das ist seit gefühlt 200 Jahren so. Die Stadt tut nix. Die Bahn tut nix. Schuld ist immer die Andere. Dann wird an Karneval eben der ganze Bahnhof dichtgemacht. Warum fährt die Bahn überhaupt noch?

Auf der Aachener Strasse war alles mit Autos zugestellt. Mann nennt es Stau. Wer hat die denn bloss losfahren lassen? Kann mann in Köln am 11.11. in Köln was Absurderes machen?

Mit 45 Minuten Verspätung erreichte der Zug den Hauptbahnhof und leerte sich. Während der Fortsetzung der Fahrt wurde bekanntgegeben, dass er schon in Oberhausen endet. Ich verliess ihn in Duisburg, ein RE nach Essen wartete am gegenüberliegenden Gleis. Solche Anschlüsse sind nachgerade schweizerisch – in Deutschland ist das Zufall.

Zur abendlichen Heimfahrt erschien mein IC in Essen 3 Minuten zu früh. Freie Platzwahl. In Köln füllte er sich mit Karnevalist*inn*en. Es war 21 h, es waren die Vernünftigen, null Randale, alle etwas müde. In Bonn 3 Minuten Verspätung. In der U-Bahn ähnlich: viele Jugendliche, unaggressiv, nett zueinander.

Zuhause angekommen erfahre ich, dass meine Borussia gegen die andere Borussia (überraschend) gewonnen hat. Ein runder Tag also. Den angemessenen Kommentar zur nun drohenden WM finden Sie hier.

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
Sie können dem Autor auch via Fediverse folgen unter: @martin.boettger@extradienst.net