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Irrelevante Individuen

Best of 11. Februar 2023: Störfaktor Diplomatie, fehlende Abgrenzung gegen Rechts, Linkspartei, Menschenverachtung als Normalität

In einem Interview mit Michael Maier/Berliner Zeitung benennt Günter Verheugen, 1999-2007 EU-Kommissar, die vertanen Chancen im Verhältnis zu Russland: ‘Willentlich und wissentlich eine Linie überschritten’ – Der frühere EU-Kommissar erzählt von einer Zeit, in der es Dialog und Kooperation mit Russland gab. Fast wäre ein eigenständiges Europa gelungen.” Ich fürchte, sein wünschenswertes Schlussplädoyer “Deutschland muss gemeinsam mit Frankreich eine EU schaffen, die bereit und in der Lage ist, ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen. …” ist schon von den Zeitläufen überholt. Die Interessendivergenzen zwischen Deutschland und Frankreich (Atomwaffen, Atomenergie, Rüstungsindustrie, Agrarpolitik u.v.m.) sind kaum noch überbrückbar. Und wenn Macron die Regierungsmacht an Le Pen übergibt, sind alle möglichen Brücken zusammengebrochen. Dann entsteht eine rechtsreaktionäre Umzingelung von Polen, über Ungarn, Italien, Frankreich bis Schweden/Skandinavien. Viel Vergnügen.

Störfaktor Diplomatie

Joachim Schappert/telepolis kennzeichnet die Sackgasse, in die Verheugen mutmasslich nicht so blindlings reingelaufen wäre, wie die heutigen Akteur*inn*e*n: Friedensdiplomatie als Störfaktor – Die Mehrheit der Deutschen ist für mehr Diplomatie. Von politischen Lösungen innerhalb der Ukraine-Strategie der Bundesregierung ist aber nichts bekannt – vom Niedergang der politischen Konfliktbeilegung.” Ein solcher Störfaktor ist der Schwarzer/Wagenknecht-Aufruf “Manifest für Frieden”, den nach 18 Stunden bereits über 150.000 Menschen unterzeichnet haben. Das zeigt, dass er ein Artikulationsbedürfnis trifft. Dennoch ist er politisch nur begrenzt durchdacht und von den zwei medienerfahrenen Frauen viel zu medienfixiert konzipiert.

Ich erwähnte schon die Platzierung auf der Plattform des Datensammelunternehmens change.org Auch das in der Friedensbewegung zentrale Netzwerk Friedenskooperative hier in Bonn sieht das a.o. kritisch. Daraus ergibt sich für mich, dass Schwarzer und Wagenknecht mit diesen Mobilisierungs- und Organisationsfachleuten nicht wirklich gesprochen haben können. Dafür spricht ausserdem, dass sie am übernächsten Wochenende am Brandenburger Tor demonstrieren wollen, wo viele Kameras garantiert sind, aber ausser in Berlin nicht besonders viele Bürger*innen ihren Wohnsitz haben, sondern beschwerlich anreisen müssen, um anschliessend mehrere Stunden für den Frieden zu frieren.

Fehlende Abgrenzung gegen Rechts als Schwachstelle

Eine inhaltliche Verteidigung und Kritik liefert Roland Bathon/telepolis: Was am Wagenknecht-Schwarzer-Manifest wirklich kritikwürdig ist – Heftig und staatstragend wettern Empörte gegen den Friedensappell. Die Kritik trifft aber nicht den eigentlichen Schwachpunkt. Manche Kritiker scheinen den Text auch gar nicht zu kennen.” Bathons Kritik lässt sich zuspitzen: ein Aufruf, den führende AfDler bereit sind zu unterschreiben, hat unzumutbare Schwachstellen. Warum wurde bei seiner Ausformulierung nicht bedacht, sie zu schliessen? Ein Fehler, der klimachützenden Schüler*inne*n kaum unterläuft – aber diesen erfahrenen Häsinnen? Wie kann das sein?

Gerhard Hanloser/telepolis liefert zu diesem Strategieproblem eine sehr informative, wichtige und etwas ratlose Reportage: Krieg und Frieden: In einer kleinen Stadt – Eine Reportage über einen lokalen Aufzug neuer Friedensbewegter in Freiburg im Breisgau, die Agonie der alten Friedensbewegung und das ‘woke’ Einigeln der linken Szene.” Das zeigt, wie der völlige Verzicht auf materialistische Analyse ins politische Nirwana führt. Nicht weiter führt die berechtigte Frage, wer dieses Diskursdesaster verschuldet hat. Sondern: wer hat die Fähigkeit, Bereitschaft, Bündnis- und Handlungsfähigkeit, das wachsende politische Vakuum hierzulande von links zu besetzen?

Linkspartei und ihr fernstehende Medien

Auch die vernünftigen Menschen in der Linkspartei, wie meine alte Freundin Katina Schubert, die mir zuerst als Erstsemesterin und Juso auf den Fluren des Seminars für Politische Wissenschaften der Uni Bonn begegnet ist, hat damit sicht- und lesbare Probleme, die am Wahlsonntag – werden sie es dieses Mal schaffen in Berlin? – ein weiteres Mal dokumentiert werden: Marcel Malachowski (Interview)/overton: ‘Unser Ansatz ist die Vergesellschaftung der großen privaten Wohnungsunternehmen’ – Vor der Wahl: Katina Schubert, Vize-Bundesvorsitzende und Berliner Linkspartei-Chefin, im Interview mit Marcel Malachowski über die Doppelmoral zu Silvester, über Wohnungsnot, Mietenwahnsinn und die Abschaffung der Obdachlosigkeit”.

Manchmal ist die linksdoktrinäre Junge Welt ein wahrliches medienstrategisches Gesamtkunstwerk. So bringt sie es fertig, den längst im Original und übersetzt zugänglichen Text von Seymour Hersh in einer Fortsetzungsreihe hinter Paywall vermauert zu “bringen”. Wer braucht das? Im Feuilleton bringt es das gleiche “Organ” fertig, einen DLF-Beitrag zu empfehlen – und ihn nicht zu verlinken. 2-Minuten-Recherche, bitte schön. (Audio, 7 min)

Militärs kennen die Schwächen des Militarismus besser als andere

Ja, die Generäle. Fachkräfte für Massenmord, Führungskräfte. Wie seltsam, dass viele von denen, die dafür jahrzehntelang ausgebildet wurden und Karriere bis weit oben machten, als Ruheständler zu Bedenkenträgern und Zauderern werden. Während die Tapferen und Mutigen in Deutschland fast allesamt, ähnlich wie ich Feigling, an ihrer Tastatur zu Mut und Durchhalten mobilisieren. Der ehemalige Schweizer Oberst Jacques Baud scheint ein besonderer Fall. Seine Interviewer von Zeitgeschehen im Fokus führen ihn selbst als “als Verschwörungstheoretiker und Vertreter von prorussischer Propaganda” – in den westlichen Medien selbstverständlich – ein. Wer sich wie ich davon nicht abschrecken lässt, liest hier schmerzhaft-unangenehmen Realismus: Thomas Kaiser (Interview)/overton: ‘Deutschland zahlt den Preis für den von den Amerikanern gegen Russland geführten Krieg’ – Jacques Baud über die nach seiner Sicht von Medien und Politikern verzerrte militärische Lage in der Ukraine und warum diese missbraucht wurde, um zu versuchen, Russ­land zu vernichten.” Es sieht so aus, als wenn – zum Glück – nicht Russland, aber – zu grösstem Unglück – der Staat Ukraine dem Erdboden so gleichgemacht wird, dass jede*r Humanist*in nur noch hoffen kann, dass möglichst Menschen diesem Vernichtungswerk entrinnen können. Woraus sich die Antwort ergibt, was vernunftbegabte Menschen jetzt noch tun können: ebendiesen Menschen, die das versuchen, mit allen Kräften zu helfen.

Das Wort zum Sonntag

Das ist ein Wutausbruch von Martin Gerhard Loschwitz/iX Magazin/heise-online: Kommentar zu US-Entlassungen: Wenn Menschenverachtung zur Normalität wird – US-Konzerne entledigen sich menschenverachtend ihrer Mitarbeiter – und zum Überdruss wünschen sich manche deutsche Chefs und Politiker glatt dasselbe.” Bravo, gut geschrieben.

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
Sie können dem Autor auch via Fediverse folgen unter: @martin.boettger@extradienst.net

2 Kommentare

  1. Peter Kramer

    Wenn die Redaktion des Overton Magazins bezüglich Jacques Baud darauf hinweist “Dort (in westlichen Medien) gilt er deswegen als Verschwörungstheoretiker und Vertreter von prorussischer Propaganda.” dann hat das meiner Meinung eine gewisse Berechtigung. Der Mann ist bestimmt fachlich qualifiziert und kann einiges Erhellendes zum Verständnis der Lage beitragen, aber zum Einen hat er schon fragwürdiges behauptet (der Vorstoss auf Kiew zu Beginn der Invasion sei nur eine Finte und kein Rückschlag gewesen), dann veröffentlicht er auch bei unsäglichen Portalen wie thepostil.com.
    (stockreaktionäres Christentum, monarchistisch, pro-russisch, gaga)
    Was er dort publiziert ist oft nicht falsch, aber es gibt mir zu denken, dass er es dort verkündet.
    Bleibt nur selber denken.

    • Martin Böttger

      Yessir!

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