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Clausewitz wäre Ukrainer!

Der Ukrainekrieg ist auch einer zwischen zwei sehr unterschiedlichen Kriegs-„Philosophien“

Beim großen Dialektiker des Kriegs hat die Verteidigung den Primat vor dem Angriff. Das ist eine Eigentümlichkeit der Clausewitzschen Theorie. Und es ist nicht einfach eine „moralische“ Forderung in dem Sinne, dass man andere nicht angreifen soll, sondern eine ziemlich komplexe Folgerung aus der dialektischen Betrachtung des Krieges. Wenn man genauer nachliest, bemerkt man einmal mehr, was diese alten Preußen alles drauf hatten.

Dabei scheint sich Clausewitz Primat der Verteidigung auffällig mit dem ukrainischen Vorgehen zu decken, das auch, aber nicht nur den konkreten Umständen und Mitteln geschuldet ist, die dem Land zur Verfügung stehen. Das ukrainische Vorgehen steht für eine „Philosophie“ des Krieges, die der russischen diametral entgegengesetzt ist.

Auf russischer Seite setzt man auf den Angriff ohne Rücksicht auf eigene Verluste. Welle um Welle wird nach vorne geworfen. Die Artillerie wird auf engstem Raum konzentriert. Man ballert und ballert, was die Rohre hergeben. Das soll so lange gehen, bis der Feind sturmreif geschossen ist und einfach überrannt werden kann. Hier dürfte die „Stalinsche Konzentration aller Kräfte“ Pate stehen, die dazu führen soll, dass man irgendwann „Pferde treiben kann“ – wie man in alter Treue zum Generalissimus wohl auch heute noch annimmt.

Diese Doktrin wird in der starren russischen Militärpraxis bis zu jener Erschöpfung verfolgt, die zum ersten Mal im Spätsommer 2022 eingetreten ist. Hätte die Ukraine in diesem Moment der russischen Erschöpfung die nötigen Mittel gehabt, hätte sie wohl noch viel größere Erfolge erzielen können als sie dann tatsächlich und ohne viele weitere Kämpfe erzielt hat. Aber sie hatte ja keine Waffen, auch weil im Westen noch viel diskutiert werden musste (bin gespannt, wie das einmal in der Militärgeschichte beschrieben wird. Mein Tipp: Kriegsverlängerung aus falsch verstandenem Pazifismus!)

Bei Clausewitz kommt dagegen die sinnvolle Angriffsoperation in den Blick. Angriff ist dabei nicht per se die beste Verteidigung, sondern nur der Kulminationspunkt der Verteidigung – in etwa so, wie die Ukraine das praktiziert, nämlich aus einer Phase des Abwehrkampfes heraus: „Ein schneller, kräftiger Übergang zum Angriff – das blitzende Verteidigungsschwert – ist der glänzendste Punkt der Verteidigung; wer ihn nicht gleich hinzudenkt, oder vielmehr, wer ihn nicht gleich in den Begriff der Verteidigung aufnimmt, dem wird nimmermehr die Überlegenheit der Verteidigung einleuchten“.

Wer sich so wie die Ukraine verteidigt, braucht Geduld und einen kühlen Kopf, um gerade durch die Verteidigung den Moment der Schwäche des Feinds herbeizuführen. Und der dürfte nach vielen Monaten sinnlosen russischen Anrennens auf Bachmut demnächst einmal kommen. Clausewitz wäre mit seinen Kollegen im ukrainischen Generalstab wohl zufrieden.

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Über Reinhard Olschanski / Gastautor:

Geboren 1960, Studium der Philosophie, Musik, Politik und Germanistik in Berlin, Frankfurt und Urbino (Italien). Promotion zum Dr. phil. bei Axel Honneth. Diverse Lehrtätigkeiten. Langjährige Tätigkeit als Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Referent im Bundestag, im Landtag NRW und im Staatsministerium Baden-Württemberg. Zahlreiche Veröffentlichungen zu Politik, Philosophie, Musik und Kultur. Mehr über und von Reinhard Olschanski finden sie auf seiner Homepage.

2 Kommentare

  1. Martin Böttger

    Hinweis an alle Filosof*inn*en: die Geheimhaltung der Opferzahlen ist Teil der “erfolgreichen” Kriegführung. Das verpflichtet unabhängige Medien nicht, sich daran zu halten:
    https://orf.at/stories/3302378/
    Derweil meldet die UN über 8 Mio. Flüchtlinge allein aus der Ukraine. Über Flüchtlinge und Desertionen aus Russland ist weniger bekannt. Sie werden auf eine sechsstellige Zahl geschätzt. Aber die will ja hier in der Freiheit sowieso keine Regierung haben.

  2. W.Nissing

    Mal zu den Opferzahlen….. Ihr glaubt doch nicht ernsthaft das die den Kriegführenden nicht bekannt sind. Die fliegen laufend mit ihren Satelliten da oben rum, das Pentagon gibt jedes Jahr rund 50 Milliarden! (Nicht Millionen) nur für strategische Kommunikation aus. Die präsentieren uns hier Satellitenbilder aus Butcha etc, aber gleichzeitig sollen die nicht die Friedhöfe im weiten Rußland sehen??????, die asomedien im Blick haben, und und und.
    Sollten die russischen Opferzahlen tatsächlich so hoch sein wie immer hier im Westen kolportiert wird, frage ich mich wieso die nicht entsprechend medial genutzt werden. In Russland kann man ja auch Westfernsehen schauen und würden somit ggf die Sichtweise dort ändern. So wie man hier ja auch die russischen Programme über einen kleinen Umweg sehen kann.
    Euch kann man aber scheint es jeden Tineff erzählen, Hauptsache er passt in Frame.

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