Friedrich Merz fühlt sich von Angela Merkel um seine Karriere als CDU-Fraktionsvorsitzender und CDU-Chef betrogen. Deshalb sind seine Oppositionsversuche oft nur zu verstehen, wenn man ihn versteht, welche Chancen er nicht hatte und nun glaubt, nachholen zu können. Seine Vorschläge und oppositionelle Attacken erinnern an die 80er Jahre, das vorgelegte Programm endet vor der Ära, in der er von Angela Merkel kaltgestellt wurde. Es ist nicht zukunftstauglich, sondern pathologisch. Die Frage ist, welche Christdemokraten sich dafür instrumentalisieren lassen. Serap Gülers Auftritt bei der Vorstellung war zutiefst verstörend.

Merz gebraucht latent rassistische Begriffe wie “Asyltourismus” oder “Asylschwindel”,  “Migration in die Sozialsysteme”, die er und seine Parteifreunde 1992 ff. während der abscheulichen Asylhetze und der Zeit der Anschläge in Hünxe, Rostock, oder Solingen benutzt haben. Sprachwissenschaftler sprachen damals davon, dass den verbalen Anschlägen der Politik physische Anschläge gegen Flüchtlingsunterkünfte gefolgt sind.  So wird Merz jedenfalls nicht die AfD halbieren, sondern sie – wie bisher während seiner Zeitdauer als CDU-Vorsitzender – verdoppeln. Das dafür taugliche Programm hat er gerade vorgelegt. Oder besser von seinem Dünnbrettbohrer Linnemann vorlegen lassen.

Ab in die 80er Jahre

Die finanzpolitischen und ökonomischen Vorstellungen von Merz/Linnemann sind ausnahmeslos dem Neoliberlaismus der 80er Jahre und der Austerlitätspolitik der 2000er entliehen. Abflachung des Einkommensteuertarifs, strikte Einhaltung der “Schuldenbremse”, egal, was passiert, Rückkehr zu Sanktionierungen beim Bürgergeld, die davon ausgeht, dass es grundsätzlich “Drückeberger” gebe, die sich dem Arbeitsmarkt entziehen, zeugen von einer Unkenntnis der Lage in der Reserve von schwer Vermittelbaren der Bundesagentur für Arbeit und betonen den aus den 80er Jahren gewohnten Ton, schwache und ganz schwache Mitglieder der Gesellschaft gegeneinander auszuspielen. “Leistung muss sich [wieder] Lohnen” – ein Slogan der FDP im Wahlkampf von 1982/83 direkt nach dem Verrat an der sozialliberalen Koalition wird 2024 zu einem Leitmotto der CDU. In einer Zeit, in der Fachkräftemangel und brachliegende Fähigkeiten von Flüchtlingen und Einwanderern, sei es aus der Ukraine oder von anderswo die Regel sind.

Spalten auf allen Ebenen

Das Bürgergeld will die CDU angreifen, weil sie zum System von Hartz 4 zurückkehren will, ohne dies auszusprechen. In Sachen Rente vertritt sie gar von ganz rechtsaußen inspirierte Forderungen. Das Rentenniveau solle, “an die Lebenserwartung gekoppelt werdn.” Mit diesem biologistischen Parameter führt die CDU erstmalig ein den Sozialstaat völlig fremdes Merkmal ein und blendet dafür jede Solidaritätsleistung der Wirtschaft aus. Mit einer derart biologistischen Begründung des Renteneintrittsalters negiert die CDU nicht nur völlig die Verantwortung der Unternehmen und ihrer Produktivitätssteigerungen für das Rentensystem. Sie begibt sich auf einen Pfad der Entsolidarisierung der Gesellschaft, der so tut, als ob allein die Beschäftigten eines Wirtschaftssystems für ihre Altersversorgung zuständig seien. Damit setzt sie den Kurs fort, die die CDU/CSU in den 90er Jahren unter Kohl eingeschlagen hatten, um die Verantwortung für die Altersvorsorge allein den Arbeitnehmern zuzuschieben. Die Union nähert sich unter Merz damit der spalterischen Ideologie der AfD weitgehend an.

Asylrecht abschaffen, Rechtstaat schleifen

Die Vorstellungen der Union zur sogenannten “Reform” des Asylrechts bestehen in seiner endgültigen Abschaffung. Väter und Mütter des Grundgesetzes würden sich im Grab herumderehen, läsen sie, welche steilen und teils völlig absurden und jeder Praxis obsoleten Thesen die ehemals christliche Volkspartei CDU hier beschließen soll. Das gesamte Programm ist ein einziger Verfassungsbruch und eine Verhöhnung der Väter und Mütter des Grundgesetzes – ausgerechnet im Jahr, in dem das Grundgesetz 75 Jahre alt wird. Merz führt einen von der AfD intendierten, beispiellosen Angriff auf die Grundfesten unserer Demokratie.

Auch Merz am Rande der Verfassungsfeindlichkeit

Asylrecht von Flüchtlingen aus Drittstaaten soll ohne Rücksicht auf ihrer Verfasstheit geprüft und Verfahren durchgeführt werden. Eine tolle Idee für die Menschenrechte – man denke an die Türkei mit ihrem Antidemokraten und IS- und Hamas-Unterstützer Erdogan, Tunesien, mit dem diktatorischen Präsidenten, Marokko, mit einem autoritären Monarchen, der seine Opposition in Deutschland durch seine Konsulate verfolgen lässt, dem Militärdiktator al Sisi in Ägypten und den verfeindeten Bürgerkriegsparteien in Libyen, die es der sogenannten “libyschen Küstenwache” erlauben, mit EU-Geldern Pushbacks durchzuführen, Flüchtlinge zu foltern, zu vergewaltigen und als Arbeitssklaven in Drittländer zu verkaufen. Das sind wirklich “sichere Drittstaaten” um Asylverfahren fair durchzuführen! Das Individualrecht auf Asyl ist, geht es nach der CDU, endgültig beendet und soll einer “institutionellen Garantie” weichen. “Institutionelle Garantie” ist eben keine Garantie, sondern ein Mittel zukünftiger Bundesregierungen, sich durch die Aufnahme von begrenzten Flüchtlingskontingenten (ähnlich den Boat People aus Vietnam 1972) von der Verantwortung für eine individuelle Asylrechtsgrantie freikaufen zu können. Auch dies kennen wir schon von 1992, vor der skandalösen Asylrechtsänderung  im Grundgesetz durch CDU/FDP und SPD zu Artikel 16a. Politisch gesprochen: Was die CDU hier vorhat, ist von der AfD kaum noch zu unterscheiden.

Kultureller Blödsinn – Migranten als Opfer

Kaum zu glauben: Die CDU hat die “Leitkultur” wieder ausgepackt, die Carsten Linnemann “Erkennungsmelodie” nennt. “Muslime, die unsere Werte teilen” sollen sollen willkommen sein, Der Islam gehört nicht mehr zu Deutschland, sondern nur noch die obigen und “Deutschland ist ein christlich geprägtes Land.” Nach einer Umfrage der evangelischen Kirche sind etwa noch 20% der Bevölkerung in Deutschland gläubig. Genau man muss ja mal realistisch sein. Dass bei diesen Zumutungen ausgerechnet Serap Güler bei der Verkündigung dieses Schwachsinns mit auf dem Podium stand, muss wirklich Sorge bereiten. Weche Droge, welche Foltermethode, Drohung  oder Versprechung öffentliche Ämter können die ehemalige Integrationsbeauftragte des Landes NRW Armin Laschets dazu gebracht haben, derartige Ladenhüter der Migrationspolitik mit zu verkaufen? Muss man sich ernsthafte Sorgen um sie machen?

Klimapolitik am Rande der Verleugnung

Weil Friedrich Merz nicht nur Angela Merkels “wir schaffen das” vernichten will, muss er auch mit dem Atomausstieg brechen, so absurd und technisch wie politisch unsinnig es auch sein mag. “Deutschland kann … nicht auf die Option Atomkraft verzichten” heisst es in seinem programmatischem Machwerk. Am Rande der COP 28 hat Emmanuel Macron in ähnlicher Weise den Eindruck zu erwecken versucht, die “Atomkraft sei eine nötige Übergangstechnologie”. Welch ein Schwachsinn! Atomkraftwerke haben eine Bauzeit von derzeit über 20 Jahren und verbrauchen bim Bau wegen der nötigen Millonen Tonnen Beton Millionen Tonnen CO2 – bei Bau und Rückbau. Sie kommen in jedem Fall viel zu spät und sie blockieren wegen ihrer nicht steurbaren ausschließlichen Grundlasttauglichkeit jedes intelligente Management erneuerberer Energien. Französische AKW verhindern, dass Deutschland und Osteuropa Ökostrom aus Spanien und Portugal beziehen können – und die CDU zeigt mit diesem Programm, dass sie rein technisch über nicht den Hauch einer Ahnung von einer zukunftstauglichen Energiepolitik verfügt und sich ausschließlich als verlängerter Arm der Atomindustrie versteht. Wie Franz-Josef Strauß, “Atomminister” der 60er Jahre.

Politökonomisch in den Abgrund

Friedrich Merz, – jahrelang für seine immer gleichen Reden vom Investor Blackrock  fürstlich bezahlt – mag sich dadurch ein Privatflugzeug leisten können, sein ökonomischer Sachverstand hat sich nicht weiterentwickelt. Als Helmut Kohl zusammen mit Genscher 1982 die “Wende” einleitete, war Ronald Reagan Präsident der USA, standen Umverteilung von unten nach oben, asoziales Kaputtsparen, Privatisierung des Staates und der Infrastuktur und Steuererleichterungen für Superreiche ganz oben auf der Agenda und brachten einen Aufschwung der Börsenspekulation, der Immobilienspekulation, bis hin zum “neuen Markt” und seinem Zusammenbruch 2002, sowie der Lehman-Pleite 2008. Kaputte Infrastruktur, marode Schulgebäude und eine totgesparte Bahn sind das Ergebnis dieser Politik. Merz gehört zu den Glücksrittern, die damals und danach, als die Staaten die Banken mit Milliardenbürgschaften retteten, ihren Reichtum gemacht haben. Dieser ökonomische Hasardeur schickt sich nun an, die Republik mit anachronistischen Rezepten und populistischen Heilsversprechen ähnlich wie Trump besoffen zu reden.

Wachstum durch Subventionen und Investitionen

Die Vereinigten Staaten, die anderen EU-Staaten, China und die BRICS-Staaten sehen ihre Zukunft in den 20er Jahren in massiven ökonomischen Subventionen, um die Transformation der Volkswirtschaften aufgrund der drohenden Klimakatastrophe sinnvoll und zielgerichtet zu gestalten. Der volkswirtschaftlichen Lehre von Keynes folgen sogar die “Kommunisten” Xi Jinpings. Sie sind angesichts diesen Wettlaufs von Subventionen in Ost und West der Schulmeinung, dass nicht sparen und hysterische Austerlitätspolitik, wie sie sich CDU/CSU und FDP mit der Schuldenbremse aufs Panier geschrieben haben, sondern mutige Investitionen in Zukunftstechnologien die gesellschaftliche Krisen und den Klimawandel bekämpfen können.

Merz hat jede Chance zu regieren, längst vergeigt

Wer sich, statt die ökonomischen und politischen Verhältnisse zu analysieren, in ideologische Grabenkrämpfe verstrickt wie Merz, kann nicht erfolgreich sein. Die ökonomische Situation, in der der Krieg Russlands gegen die Ukraine ja nun keine unwesentliche Rolle spielt – jederzeit kann dieser so eskalieren, dass auf jeden Fall die Feststellung einer wirtschaftlichen Notlage gerechtfertigt ist – so zu banalisieren, als ob es die Verwerfungen durch Ukrainekrieg und den Gaza-Krieg der Hamas nicht gäbe.  Schon in der Reaktion auf die Regierungserklärung des Bundeskanzlers nach dem Verfassungsgerichtsurteil zur Schuldenbremse hat Merz gezeigt, dass es ihm nicht um die Sache und schon gar nicht um eine politische Gesamtverantwortung für die Bundesrepublik Deutschland geht. Merz geht es um Effekthascherei, populistisches Geschrei bis hin zur rücksichtslosen, AfD-ähnlichen Verunglimpfung der Regierung – und um Merz selbst. Es gibt keine “Brandmauer” mehr. Dafür hat sich die CDU mit diesem Grundsatzprogramm viel zuviele AfD-Ziele zueigen gemacht. Der neue gemeinsame Kampf von Teilen der CDU und AfD gegen das “Gendern” steht dafür beispielhaft. Als ob dieses Land keinen anderen Sorgen hätte. “Im Grundsatz jederzeit startklar” titelte der “Kölner Stadtanzeiger” zum Programmentwurf. völlig daneben. “Grundsätzlich nicht regierungsfähig” wäre die richtige Überschrift gewesen.

Über Roland Appel:

Roland Appel ist Publizist und Unternehmensberater, Datenschutzbeauftragter für mittelständische Unternehmen und tätig in Forschungsprojekten. Er war stv. Bundesvorsitzender der Jungdemokraten und Bundesvorsitzender des Liberalen Hochschulverbandes, Mitglied des Bundesvorstandes der FDP bis 1982. Ab 1983 innen- und rechtspolitscher Mitarbeiter der Grünen im Bundestag. Von 1990-2000 Landtagsabgeordneter der Grünen NRW, ab 1995 deren Fraktionsvorsitzender. Seit 2019 ist er Vorsitzender der Radikaldemokratischen Stiftung, dem Netzwerk ehemaliger Jungdemokrat*innen/Junge Linke. Er arbeitet und lebt im Rheinland. Mehr über den Autor.... Sie können dem Autor auch im #Fediverse folgen unter: @rolandappel@extradienst.net