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Klaffende Löcher

“Integrierte Versorgung” ist was anderes – die “Boomer” werden 80 (und mehr)

Über 300 000 Krankenhaus-Aufenthalte von Pflegebedürftigen Menschen seien 2022 allein in Nordrhein-Westfalen vermeidbar gewesen, wenn deren medizinische Versorgung besser gewesen wäre. So steht es im „Pflegereport“ der Barmer Ersatzkasse. Und so stand es auch im Bonner General-Anzeiger am Freitag, den 8.März. Allerdings entwarfen die Überschriften-Finder der Zeitung dazu die falsche Unterzeile des Textes: „Pflegemängel führten dazu, dass mehr Menschen ins Krankenhaus müssen als nötig.“ Nein, Pflegemängel sind es eben nicht. Es sind die Defizite in der Versorgungskette vom kranken Menschen,

über Hausärztin, Hausarzt –

zu spezialisierten Medizinern, die sich auf Pflegebedürftige in Heimen eingestellt haben,

über Defizite durch Personalnot in den Heimen

bis hin zu den Krankenhäusern, über deren übervolle Stationen und Intensivbereiche, in denen manche künstlich beatmeten Patienten liegen,

zurück zu den Heimaufenthalten

oder zu Beatmungs-WGs, also Wenning- Stellen und wieder

zurück zu Krankenhäusern.

Da stecken die Mängel. Das Defizit hat einen anspruchsvollen Namen: Integrierte Versorgung. Die dazu passende Deutsche Gesellschaft für Integrierte Versorgung im Gesundheitswesen ist eben 20 Jahre alt geworden. Sie stammt also noch aus den Zeiten der Gesundheitsministerin Ulla Schmidt.

Es ist ja auch in diesen 20 Jahren eine Menge geschehen. Die früher schier unübersteigbar erscheinenden Grenzen zwischen ambulanter und stationärer Versorgung sind in Teilen verschwunden. Überweisungs- und Entlass-Management funktionieren weitgehend. Die Datenübermittlung ist modern. Aber im Bereich der Pflege gibt es eben noch enormen Bedarf. In manchen – auch Bonner Praxen – arbeiten sich Ärztinnen und Ärzte mit der Betreuung und Behandlung von Pflegebedürftigen schier tot. Es sind zu wenige da, die sich mit der Pflege auskennen.

Es gibt zu wenige Möglichkeiten der Rehabilitation Pflegebedürftiger, eigentlich heute bereits zu wenig von allem. Das wird sich noch verschlimmern, wenn sich nicht bald etwas tut. Die Zahl der Pflegebedürftigen wird laut Barmer von gegenwärtig etwas mehr als 1,2 Millionen allein in NRW auf 1,5 Millionen in den nächsten Jahren steigen. Und noch weiter steigen, weil die Jahrgänge der Boomer-Generation auch die Zahl der Pflegebedürftigen nach oben treiben wird. Die Zahl der über 80-Jährigen in Bonn wird sich von etwa 17 000 auf eine Größenordnung von 34 000 bis 35 000 erhöhen. Ausweichen kann dieser Entwicklung niemand. Die Pflege leitet den letzten (!) Lebensabschnitt eines Menschen ein. Den Letzten. Danach kommt oft noch eine kurze Hospizzeit, Abschied von Angehörigen, je nach persönlicher Auffassung kommt nach dem Tod nichts mehr oder etwas ganz anderes. Wir wissen das nicht.

Tun wir nichts, wird das alte Alter zu einer Plage und für viele zur sozialen Katastrophe. Im GA ist das eher dezent zu lesen: „Offen ist, wer sie dann alle versorgen soll.“ Tatsächlich wird das bedeuten, dass viele allein, hilflos, ohne Unterstützung sterben, krepieren werden.

Es wäre schon viel gewonnen, wenn sich die Stadt daran machen würde, Stadtteil für Stadtteil die Situation der alten Alleinlebenden zu analysieren; dann zu überlegen, wo Treffpunkte mit pflegerischer Ausstattung eingerichtet werden müssten. Wo Beratung zu finden ist, der Untergrund Rollator-tauglich ist, wo es Restaurants gibt, die preiswertes Essen anbieten und die Toiletten auf Straßenniveau ausweisen statt treppab im Keller, wo Gesundheitszentrum guttun würden und wo sich Bus und Bahn anbieten sollten.

Es würde übrigens auch guttun, wenn der Bundesgesundheitsminister statt auf Tiktok präsent zu sein, dem Bundesfinanzminister die Hölle heiß machen würde, damit der höhere Bundeszuschüsse für die Altenpflege rausrückt; denn der tut offenkundig so, als sei die Altenpflege ein Art „Sozial-Balkon“ den man ja nicht betreten müsse.

Über Klaus Vater / Gastautor:

Klaus Vater, geboren 1946 in Mechernich, Abitur in Euskirchen, Studium der Politikwissenschaft, arbeitete zunächst als Nachrichtenredakteur und war von 1990 bis 1999 Referent der SPD-Bundestagsfraktion. Später wurde er stellvertretender Sprecher der deutschen Bundesregierung. Vater war zuvor Pressesprecher des Bundesministeriums für Gesundheit unter Ulla Schmidt, Sprecher von Arbeitsminister Walter Riester, Agentur-, Tageszeitungs- und Vorwärts-Redakteur. Mehr über den Autor auf seiner Webseite.

Ein Kommentar

  1. Martin Böttger

    Ich wohne in direkter Nachbarschaft einer grossen Zahl von Sozialwohnungen für Senior*inn*en, errichtet von der städtischen Wohnungsbaugesellschaft Vebowag
    https://www.vebowag.de/wohnen/servicewohnen/
    Ich fürchte die Wartelisten dafür sind entsetzlich lang. Die Bushaltestelle ist vor der Tür, der Edeka in Rollator-Nähe. Zu kritisieren ist, dass solche Projekte heute nicht mehr möglich sind, weil die Grundstücks- und Baupreise zu hoch sind ( = “freie” Marktwirtschaft – andere nennen es Immobilienspekulation verbunden mit Geldwäsche). Das macht die beschriebenen Löcher umso schlimmer. Die Frequenz der Notarzteinsätze wird jedenfalls nicht kleiner …

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