von Peter Wahl
Die EU befindet sich in einer existentiellen Krise. Spätestens seit dem BREXIT steht die Entwicklungsrichtung der Integration und das Endziel des Prozesses zur Debatte. Quer durch alle politischen Lager verbreitet sich die Einsicht, dass Business as usual nicht mehr möglich ist. So kam selbst EU-Ratspräsident Tusk im Mai 2016 – also noch vor dem Brexit – zu dem Schluss: „Heute müssen wir zugeben, dass der Traum eines gemeinsamen europäischen Staates mit einem gemeinsamen Interesse, mit einer gemeinsamen Zukunftsvorstellung, … eine gemeinsame europäische Nation eine Illusion war.“
Demgegenüber hält in der deutschen Linken eine zwar schrumpfende, aber doch noch große Strömung an der Vertiefung der Integration und am Endziel einer europäischen Föderation, den Vereinigten Staaten von Europa fest.
Gleichzeitig werden praktisch alle Projekte, in denen sich die Integration materialisiert – Flüchtlingspolitik, Austerität, Unterwerfung Griechenlands, TTIP, CETA, Kapitalmarktunion, Sanktionen gegen Russland, immer engere Verzahnung mit der NATO, Militarisierung etc. – abgelehnt. Natürlich völlig zurecht. Es gibt also keinen positiven Bezug mehr,sondern die Linke legitimiert „Mehr Europa!“ nur noch als kleineres Übel gegenüber einem Rückfall in Nationalismus. Behauptet wird, Nationalismus sei die einzige Alternative zu einer Vertiefung der Integration. Es wird so ein Horrorszenario aufgebaut und affektiv tief verankerte Grundwerte linker Identität und die historischen Traumata der deutschen Linken werden aufgerufen. Es geht plötzlich um Krieg und Frieden, um Faschismus und Internationalismus. Grundsätzlichere EU-Kritik von links wird als nationalistisch diffamiert und die Diskussion wird schnell emotional aufgeladen und pauschal.
Der vorliegende Text will einen Beitrag dazu leisten, die Debatte zu versachlichen und das Spaltungspotential, das in der Kontroverse liegt zu entschärfen. Die potentiellen Spaltungslinien verlaufen nicht nur in der deutschen Linken, sondern auch zwischen Linken der verschiedenen EU-Länder. Denn in Frankreich, Italien, Portugal, den Niederlanden und Skandinavien sind linke Akteure sehr stark – z.T. stellen sie die Mehrheit in der Linken – die im deutschen Kontext als „anti-europäisch“ bezeichnet würden.
Der vorliegende Text konzentriert sich darauf, zwei dialektisch miteinander verbundene Diskursfelder zu beleuchten:
• Nation, Nationalstaat, Souveränität, Nationalismus, Patriotismus;
• Internationalismus, Globalismus, Kosmopolitismus.
Damit ist das vielschichtige Thema EU natürlich nur unter einem Aspekt erfasst, aber es ist einer, der als elephant in the room die linke Debatte permanent belastet.
1. Das Diskursfeld Nation, Nationalstaat, Nationalismus etc.
Dass es eine linke Skepsis gegenüber allem gibt, was mit der sprachlichen Wurzel natio in Zusammenhang steht, ist plausibel. Bedeutet das lateinische Wort doch „Geburt“ – also einen naturhaften, biologischen Vorgang. Naive Vorstellungen und rechte Denktraditionen definieren deshalb Nation schon immer als biologisches und natürliches Kollektiv, durch „Blutsbande“ begründet, völkisch. Die Nation erscheint dann quasi als Erweiterung der biologischen Familie. Das ist eine Mystifikation. Tatsächlich sind Nationen und Nationalstaaten kein natürliches Phänomen. Sie sind historisch entstanden, haben sich historisch verändert und verändern sich auch in Zukunft.
1.1. Die Nation
Beginnen wir mit dem Begriff Nation. Er lässt sich definieren als die Verdichtung kommunikativer Prozesse und kultureller Gemeinsamkeiten einer größeren Menschengruppe oder eines gesellschaftlichen Großkollektivs, meist mit einer gemeinsamen Sprache, gemeinsamen kollektiven historischen Erfahrungen und einer entsprechenden Selbstwahrnehmung und Selbstdeutung (kollektive Identität). Diese Selbstdeutung wird mehr oder weniger auch beeinflusst durch Fremddeutungen und Fremdeinwirkung. Wird z.B. eine Nation diskriminiert, bedroht oder unterdrückt, so wird dies auch die Selbstwahrnehmungprägen.
Eine Nation kann ohne eigenen Staat oder über mehrere Staaten verteilt existieren. Nationen ohne Nationalstaat sind z.B. die Katalanen, die Schotten oder die Tibeter. Über mehrere Staaten verteilt leben die Kurden in der Türkei, dem Iran, dem Irak und Syrien, oder die Basken, die sich auf Spanien und Frankreich aufteilen.
1.2. Der Nationalstaat
Schafft eine Nation sich eigene Staatlichkeit, entsteht ein Nationalstaat. Nation und Nationalstaat sind also nicht das Gleiche. Durch die staatliche Organisation erreicht die Vergesellschaftung, die kommunikative und kulturelle Verdichtung eine neue Qualität. Jetzt verstärken nämlich staatliche Institutionen, Gesetze und Regeln, eine materielle Infrastruktur und präzis markierte Außengrenzen sowie eine integrierte Volkswirtschaft die Kohäsion der Nation. Die Selbstwahrnehmung als eigenständige Gemeinschaft wird durch Symbole (Fahnen, Hymnen, Gründungsmythos etc.) bewusst gefördert.
Mit der Entfaltung des Kapitalismus wurde der Nationalstaat zum dominierenden Modell der Vergesellschaftung. Gegenüber multinationalen Imperien, wie dem Habsburger Reich, dem zaristischen Russland oder dem osmanischen Reich erwies sich der Nationalstaat als der effizientere Rahmen für die kapitalistische Akkumulation. Hinzu kommt, dass die Konstituierung des Nationalstaates im 19. Jahrhundert in Europa durch den Kampf gegen Diskriminierung und Unterdrückung einzelner Nationen durch imperiale Herrschaft motiviert war, also eine emanzipatorische Komponente enthielt. Die nationalen Bestrebungen waren oft mit demokratischen Kämpfen amalgamiert.
Programmatisch wurde dieser Prozess mit dem Konzept der Selbstbestimmung der Völker formuliert, deren prominentesten Vertreter damals US-Präsident Wilson und Lenin waren. In dieser Epoche entstand als spezieller Fall auch die zionistische Bewegung, deren Ziel es war, den Juden Schutz vor Antisemitismus und Pogromen durch die Schaffung eines eigenen Staates zu bieten. Hier wird die Funktion des Nationalstaates als Schutzraum gegen Diskriminierung besonders deutlich. Dass die Idee dann vom britischen und französischen Imperialismus für deren Nahostpolitik instrumentalisiert wurde und ihre Verwirklichung nach dem Zweiten Weltkrieg ihrerseits das nationale Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser verletzte und bis heute verletzt, steht auf einem anderen Blatt.
Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es im Zuge der Entkolonialisierung zu einer weiteren Welle der Bildung von Nationalstaaten, die sich mit der Entkolonialisierung Afrikas bis in die 70 er Jahre des 20. Jahrhunderts zog. Die Linke in Westeuropa und Nordamerika hat diesen Prozess in z.T. politisch einflussreichen Solidaritätsbewegungen begleitet.
Der Prozess der Entstehung neuer Nationalstaaten war damit nicht abgeschlossen. Der Zerfall der UdSSR und Jugoslawiens hat eine neue Welle von Neugründungen erzeugt. Auch gegenwärtig zeigen Unabhängigkeitsbestrebungen z.B. in Schottland, Katalonien, Flandern, Quebec oder in irakisch und syrisch Kurdistan, dass viele Nationen einen eigenen Staat für erstrebenswert halten.
Daran wird sich auch in einer vernünftig überschaubaren Zukunft nichts ändern. Der Nationalstaat bleibt noch auf lange Zeit das bestimmende Strukturelement des internationalen Systems. Man kann das beklagen oder gut finden. (Was beides interessanterweise gleichzeitig vorkommen kann. So ist die nationale Selbstbestimmung für Kosovo-Albaner „gut,“ die für Russen auf der Krim „schlecht.“ Im Falle Schottlands wechselt beides sogar innerhalb von zwei Jahren. Vor dem BREXIT wurden die Schotten abschätzig als Separatisten bezeichnet, jetzt sind sie „gute Europäer.“) Aber man kann es nicht leugnen und muss in einer politischen Strategie dieser Realität Rechnung tragen. Auch wenn man der Vision einer Welt ohne Grenzen und der Utopie des „Alle Menschen werden Brüder“ anhängt, ist der Nationalstaat noch für lange Zeit der wichtigste Handlungsraum, die entscheidende Arena der politischen Auseinandersetzung. Das festzustellen ist nüchterner Realismus, der mit Nationalismus nichts zu tun hat.
1.3. Nationalstaat, Transnationalisierung und Globalisierung
Im Zuge der Globalisierungsdebatte wird die These von einer „postnationalen Konstellation“ (Habermas) vertreten, oder einer als „Empire“ vorgestellten transnationalen Weltgesellschaft (Hardt/Negri). Beiden halten den Nationalstaat für obsolet.
Wie so oft ist etwas dran an der Sache. Aber das wird in einer Weise verallgemeinert und überzogen, dass es am Ende ins Ideologische kippt. Richtig ist, dass die Transnationalisierung der Finanzmärkte, transnationale Konzerne und technologische Innovationen, wie das Internet die Grenzen der Nationalstaaten durchlöchert haben. Der Prozess wird durch multilaterale Institutionen – IWF, Weltbank, WTO etc., – sowie Freihandelsabkommen institutionell flankiert und beschleunigt. Das war keine Naturgewalt, sondern von den Eliten gewollt, zwecks Schwächung des Staates – vor allem seiner Sozialstaatsfunktion – nach innen und im Interesse der Global Player nach außen. Richtig ist, dass damit die politische Regulierung von Banken und Konzernen schwieriger wird, was ja wiederum durchaus so gewollt ist. Durch die Globalisierung ist es zu einem gewissen Steuerungsverlust des Nationalstaates gekommen.
Allerdings gilt das nicht für alle in gleicher Weise. Die USA haben ihre Konzerne durchaus im Griff, wenn es darauf ankommt. Das gilt für Banken ebenso wie für die digitale Industrie, wie Google und Facebook, die sich anstandslos dem NSA unterwerfen müssen, wenn es von ihnen verlangt wird. Und wenn es sein muss, werden auch die Unternehmen anderer Länder an die Kandare genommen. So haben die USA die Abschaffung des Schweizer Bankgeheimnisses durchgesetzt. Auch die Deutsche Bank oder Volkswagen werden von den USA für ihre betrügerischen Machenschaften zur Rechenschaft gezogen. Es gibt also eine Hierarchie im Ausmaß des Kontrollverlusts des Nationalstaates. Die USA oder China spielen in einer anderen Liga als der Tschad oder die Mongolei.
Auch für Deutschland gäbe es noch beträchtliche Spielräume. Immerhin ist das Land die viertgrößte Volkswirtschaft der Welt. Das Argument vom Steuerungsverlust wird gern missbraucht, um zu verdecken, dass der politische Wille zur Regulierung fehlt. Auch kleinere Länder haben die Möglichkeit, durch die Bildung von Allianzen der Macht der Konzerne etwas entgegenzusetzen, wenn der politische Wille dafür vorhanden ist. Internationale oder globale Probleme lassen sich durch internationale (intergouvernementale) Zusammenarbeit lösen. Dazu braucht es weder einen supranationalen Weltstaat noch einen supranationalen Superstaat EU.
1.4. In der EU war der Nationalstaat nie verschwunden
Gegenwärtig wird oft geklagt, es gäbe ein Zurück zum Nationalstaat. Tatsächlich hat es in der EU nie wirklich eine Überwindung des Nationalstaates gegeben. Staatstheoretisch ist die EU ein historisch einmaliges Hybridgebilde aus einer Allianz von Nationalstaaten einerseits, und supranationalen Komponenten, wie dem Binnenmarkt und den vergemeinschafteten Politikfeldern wie Handel oder Landwirtschaft andererseits. Allenfalls von Protostaat könnte man reden, wobei der Stand der Dinge immer noch näher an der Allianz von Nationalstaaten liegt als an einer politischen Union. Die Politische Union, die Vereinigten Staaten von Europa sind als Endziel (die sog. Finalität) definiert und als „immer engere Union der Völker Europas“ in der Präambel der Verträge verankert. Aber nicht erst seit dem BREXIT beherrschen nationalstaatliche Interessen die Entwicklungsdynamik der EU. Schon zu Zeiten von Bundeskanzler Schröder und Präsident Chirac wurden die Maastricht-Kriterien um nationalstaatlicher Interessen willen ignoriert.
Auch die Finanzkrise 2008 wurde mit nationalstaatlichen Mitteln bearbeitet und selbst innerhalb der Eurozone war das Krisenmanagement nur im Rahmen des Nationalstaates möglich. Und das nicht, weil die Regierungen so nationalistisch gewesen wären, sondern weil nur der Nationalstaat über die finanziellen, juristischen und politischen Ressourcen verfügte, die Krise wenigstens so weit einzudämmen, dass das Schlimmste verhindert werden konnte. Mit Nationalismus hat das nichts zu tun.
Die Dominanz des Nationalstaates reicht bis in die institutionellen Arrangements. Das mächtigste Gremium im Institutionengefüge der EU ist der Rat, die Versammlung der nationalen Regierungen, und nicht die Kommission und schon gar nicht das EU-Parlament. Anders als in einem Nationalstaat, in dem sich die herrschende Politik als Resultante gesellschaftlicher Interessen herauskristallisiert, fallen Entscheidungen des Rats als Ergebnis der Kräfteverhältnisse zwischen Nationalstaaten.
So zu tun, als ob die EU ein den USA, Indien, China vergleichbarer Akteur sei, ist daher reines Wunschdenken, auch wenn das Spitzenpersonal der EU und „proeuropäische“ Medien sich krampfhaft bemühen, diesen Eindruck zu erwecken.
1.5. Die Ambivalenz des Nationalstaats
Indem ein Großkollektiv sich als Nation konstituiert, konstruiert es zugleich den Unterschied zwischen Innen und Außen, Wir und die Anderen, zwischen Eigenem und Fremden. Das ist unvermeidlich und geschieht in allen Kollektiven, auch harmlosen wie einer Schulklasse oder Fußballmannschaft. Es zeigt aber zugleich die Ambivalenz, die in dieser Differenz von Anfang an angelegt ist. So ist in allen Kollektiven latent die Tendenz enthalten, nach innen Konformismus zu erzeugen, der sich zu Repression steigern kann und nach außen Abwehr, die zu Abwehr des Fremden und Aggressivität gegen Außenstehende werden kann. Allerdings ist das kein Automatismus.
Es kommt hinzu, dass man in eine Nation bzw. einen Nationalstaat hineingeboren wird, das heißt die Nationalität oder Staatsbürgerschaft ist ein Zufall und hat Zwangscharakter, dem sich niemand entziehen kann, ganz im Unterschied zur Zugehörigkeit zu einer Partei oder zum Fan-Club FC St. Pauli. In dieser Hinsicht ähnelt die Nation einem anderen wichtigen Großkollektiv: der Klasse oder sozialen Schicht, in die man hineingeboren wird.
Last but not least ist die Herausbildung von nationaler Staatlichkeit nicht einfach nur die Selbstorganisation von Gesellschaft, sondern vollzieht sich immer herrschaftsförmig. Solange es sich um Klassengesellschaften handelt, haben die dominanten Klassen immer überproportionalen, mitunter gar exklusiven Einfluss auf die Gestaltung des Nationalstaates.
Doch der Nationalstaat hat auch noch eine andere Seite. Mit der bürgerlichen Revolution entstand eine enge Verknüpfung von Nationalstaat und Demokratie. Deren Grundregeln und Institutionen sind auf den Nationalstaat, insbesondere auf sein Territorialprinzip, die Staatsbürgerschaft und das staatliche Gewaltmonopol gegründet. Bisher gibt es keine funktionierende Demokratie jenseits des Nationalstaates. Gerade die EU mit ihren euphemistisch als Demokratiedefizit bezeichneten autoritären Strukturen ist der beste Beleg dafür. Vorneweg der neoliberale Konstitutionalismus, d.h. die quasi verfassungsmäßige Verankerung von Marktfundamentalismus, Wettbewerb und den Grundfreiheiten als hard law, dem sog. Primärrecht.
Das bedeutet natürlich nicht, dass jeder Nationalstaat automatisch demokratisch ist. Er ist eine notwendige, aber nicht hinreichende Voraussetzung für Demokratie. Solange es keinen gleichwertigen Ersatz für die nationalstaatlich verfasste Demokratie gibt, und solange im internationalen System im Wesentlichen noch immer das Gesetz des Stärkeren herrscht, ist es nicht per se progressiv oder internationalistisch, demokratische Kompetenzen an internationale Organisationen (NATO, IWF, Weltbank etc.) oder supranationale Institutionen (EU-Kommission, EZB, EuGH etc.) abzutreten.
Ähnliches gilt für den Sozialstaat. Er war bisher nur im Rahmen des Nationalstaates möglich und hat insofern auch eine Schutzfunktion für die subalternen Gruppen der Gesellschaft erfüllt. Unter dem Druck der neoliberalen Globalisierung erodiert diese Schutzfunktion. Die EU hat, anders als von der Linken erhofft, gerade nicht einen Schirm gegen die neoliberale Globalisierung aufgespannt. Im Gegenteil, ihr Anliegen war es, im globalen Standortwettbewerb „die wettbewerbsstärkste Region der Welt“ (Lissabon-Agenda) zu werden. Auch wenn das gescheitert ist, wurde die EU zum Vorreiter beim Abbau des Sozialstaates in den Mitgliedsländern. Hier liegt ein wesentlicher Grund für die Delegitimierung der EU bei den Unterklassen, wie sie z.B. im Aufstieg von LePen oder im Brexit spektakulär zum Ausdruck kommt.
1.6. Besonderheiten des deutschen Nationalstaates
Dennoch ist die deutsche Linke sehr „großzügig“, wenn es um den Transfer von Staatlichkeit, sprich: Transfer von Souveränität an die EU geht. Das liegt natürlich an der deutschen Geschichte. Aber es ist eine unzulässige Verallgemeinerung, von der spezifisch deutschen Erfahrung auf alle anderen zu schließen. Nicht alle Nationalstaaten haben Verbrechen auf sich geladen, und kein einziger hat das singuläre Verbrechen des Holocaust zu verantworten.
Auch gibt es in anderen Ländern progressive Momente, die mit dem Nationalstaat verbunden sind. So ist z.B. die vergleichsweise hohe Identifikation der französischen Linken mit Frankreich darauf zurückzuführen, dass Nation und die Revolution von 1789 als zwei Seiten einer Medaille gelten. Nation und Nationalstaat sind also nicht essentialistisch reaktionär. Vielmehr hängt ihre Orientierung von den historischen Umständen ab.
So ist z.B. für andere EU-Länder – und ganz besonders für kleinere – die Berufung auf nationale Souveränität auch ein Schutz gegen die Dominanz der großen Mitgliedsstaaten, vor allem Deutschland. Denn die Parole Mehr Europa! bedeutet ja nicht nur, dass die Deutschen auf Souveränität verzichten, sondern auch die anderen. Aber während die Deutschen dank Bevölkerungszahl und ökonomischem Potential auch bei weiteren Souveränitätstransfers in der Lage wären, ihre Interessen zu wahren, sehen die Niederländer, Portugiesen, Polen oder Griechen das nicht so gelassen. Der Europäismus der deutschen Linken kann deshalb leicht als zynisch wahrgenommen werden, auch wenn dahinter keine böse Absicht, sondern nur eine germanozentrische Selbsttäuschung steckt.
1.7. Souveränität
Teil des Diskursfeldes Nation und Nationalstaat ist der Begriff Souveränität. Meist versteht die deutsche Linke das Konzept entweder in seiner reaktionären Variante, wie sie Carl Schmitt im 20. Jahrhundert formuliert hat, wonach souverän ist, wer über den Ausnahmezustand verfügt, oder nur in seiner außenpolitischen Dimension, nämlich als völkerrechtliche Souveränität mit dem Verbot der Einmischung in die inneren Verhältnisse anderer Staaten. Souveränität wird dann gern in einen Topf mit Nationalismus geworfen.
In die politische Theorie wurde der Begriff im 17. Jahrhundert durch den französischen Staatstheoretiker Jean Bodin eingeführt, der darunter das Verfügungsrecht des Souveräns, Ludwig der XIV. über seine Untertanen verstand. Er diente der Legitimation der absolutistischen Herrschaft. In bewusstem Gegensatz dazu hat Rousseau den Begriff der Volkssouveränität als demokratische Selbstbestimmung des Volkes formuliert. Volk ist hier identisch mit den Staatsbürgern und hat nichts mit dem völkischen Verständnis zu tun, wie in der Tradition der deutschen Rechten. Viele Linke außerhalb Deutschlands beziehen sich auf diesen demokratischen Souveränitätsbegriff. Souveränitätstransfer an die supranationale Ebene bedeutet in dieser Perspektive Verzicht auf demokratische und soziale Rechte, für den es keinen gleichwertigen Ersatz auf EU-Ebene gibt.
Aber auch der völkerrechtliche Souveränitätsbegriff hat eine emanzipatorische Dimension. Er spielte als Recht auf nationale Selbstbestimmung eine entscheidende Rolle bei der Entkolonialisierung und ist auch heute noch angesichts neo-imperialistischer Druckausübung oder gar Intervention als völkerrechtlicher Schutzmechanismus höchst relevant. Die Geringschätzung völkerrechtlicher und demokratischer Souveränität, wie sie in Kolonialismus und Imperialismus üblich war, findet heute ihre Fortsetzung in der Unterwerfung Griechenlands, oder in der Doktrin von der Responsability to Protect. d.h. der Intervention – politisch, durch ökonomischen Druck bis hin bis zum Angriffskrieg – unter dem Vorwand, Menschenrechte und Demokratie zu schützen. Die Effekte kann man z.B. in Libyen, im Irak und Syrien besichtigen.
2. Patriotismus, Nationalismus etc.
Die Verdichtung der Kommunikation innerhalb des Nationalstaats und die Homogenisierungsdruck durch gemeinsame Geschichte, Alltagstraditionen, Gesetze und das politische und ökonomische System etc. erzeugen eine nationale Identität, das heißt eine kollektive Selbstwahrnehmung und Selbstdeutung. Diese wird dann oft durch Zuschreibungen – positive wie negative – von außen verstärkt und entfaltet normative Kraft und Konformitätsdruck. Diese Identität ist eine Mischung aus Partikeln gesellschaftlicher Realität, Klischees, Ressentiments und Mythen, deren Charakter als solche den Individuen nicht bewusst sein muss.
2.1. Kollektive Identitäten – eine gesellschaftliche Grundtatsache
Letztlich liegt der kollektiven Identitätsbildung ein grundlegendes Bedürfnis zugrunde. Der Homo Sapiens ist ein Gemeinschaftswesen und kann nicht isoliert von einem Kollektiv existieren. Gemeinschaftsbildung ist daher immer auch identitätsstiftend. Auch Linke identifizieren sich deshalb mit großen Kollektiven: der Klasse, der Partei, einer sozialen Bewegung – oder dem FC St. Pauli. Völlig entziehen kann sich ein Individuum kollektiven Identitäten nicht, auch nicht nationaler Identität. Das gilt auch für politisch links stehende Individuen. Denn auch für sie gilt die Grundeinsicht des philosophischen Materialismus, wie sie Marx in seiner sechsten Feuerbachthese formuliert hat, wonach das Wesen des Menschen, „das ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“ ist. Selbst das Ignorieren oder die vehemente und ihrerseits hoch-affektive Abgrenzung vom nationalen Kollektiv, wie sie bei den sog. Antideutschen gepflegt wird, ist typisch deutsch und nur vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte verständlich.
2.2. Der Umschlag von nationaler Identität in Nationalismus
Auch in einigermaßen demokratischen, offenen und pluralistischen Gesellschaften existiert nationale Identität. Deren Stellenwert ist aber normalerweise begrenzt und eingehegt, u.a. durch die checks and balances der Demokratie. Allerdings kann sie bei vermeintlichen oder tatsächlichen Bedrohungen, oder wenn die Identität in Frage gestellt oder gar herabgewürdigt wird, schnell abgerufen und politisch instrumentalisiert werden. Aus der quasi passiven, als mentale Struktur vorhandenen Identität wird eine aktive politische Haltung: Patriotismus oder dessen Steigerung, Nationalismus und Chauvinismus.
Nationalismus ist eine Ideologie mit enormem Affektgehalt, die die eigene Nation bzw. den eigenen Nationalstaat anderen gegenüber für besser und überlegen hält. Nationalismus ist also nicht identisch mit Nation und Nationalstaat. Chauvinismus ist eine Steigerung des Nationalismus. Die Ablehnung von Nationalismus und Chauvinismus ist eine unhintergehbare Lehre aus der Geschichte und eine zivilisatorische Errungenschaft.
Patriotismus ist eine emotionale Beziehung zum Vaterland (patria), die sog. Vaterlandsliebe. In den meisten Nationalstaaten wird Patriotismus mindestens als legitim, wenn nicht erwünscht angesehen. In Deutschland gibt es dagegen auch bis in die Funktionseliten hinein eine Distanz dazu, auch wenn es zunehmend Tendenzen gibt, Patriotismus für harmlos und legitim zu erklären. So sagte z.B. 1999 der ehem. Bundespräsident und Sozialdemokrat, Johannes Rau bei seiner Antrittsrede: „Ein Patriot ist jemand, der sein Vaterland liebt, ein Nationalist ist jemand, der die Vaterländer der anderen verachtet.“
Allerdings stehen zahlreiche Befunde aus Soziologie und Psychologie dem entgegen. So kommt z.B. die die Studie „Deutsche Zustände“, die regelmäßig diesen Fragen nachgeht, zum Schluss, dass selbst noch der sog. Party-Patriotismus, wie er bei der Fußball-WM 2006 auftrat, Überlegenheitsgefühle und Fremdenfeindlichkeit fördert.
Das Problem beginnt bereits mit dem affektiven Charakter von Patriotismus. In der Vaterlandsliebe wird eine gesellschaftliche Konstruktion zur vermeintlich personalen Beziehung transformiert, nämlich der von Vater und Kind, und auf diese Weise autoritär präformiert. Noch gravierender aber ist, dass die Liebe zum Vaterland in der Regel den nüchternen Blick auf das Eigene trübt – Liebe macht bekanntlich blind. Right or wrong – my country – bringt es auf den Begriff. Patriotismus ist in Bezug auf das Objekt seiner Gefühle daher notwendig affirmativ und stellt so die Grundlagen gesellschaftskritischen Denkens von vorneherein in Frage – und damit den Kern linker Identität. Er ist immer für Herrschaftsinteressen instrumentalisierbar gewesen. Insbesondere dann, wenn die Situation der subalternen Klassen und Schichten besonders schlecht ist, oder verschlechtert werden soll, wird Patriotismus als Kompensation angeboten, sodass (nach Schopenhauer) „jeder erbärmliche Tropf, der nichts in der Welt hat, darauf er stolz seyn könnte,“ die Möglichkeit hat, wenigstens „auf die Nation, der er gerade angehört, stolz zu seyn.“
Allerdings ist auch die Funktion des Patriotismus nicht essentialistisch zu fixieren. Wie jedes andere gesellschaftliche Phänomen kann auch sie vom historischen Kontext modifiziert werden. Als Ressource etwa im antifaschistischen Widerstand in Frankreich, Italien, Jugoslawien, im Sowjetpatriotismus gegen den Vernichtungskrieg der Nazis oder in antikolonialen Bewegungen kann dem Patriotismus eine historisch progressive Funktion nicht abgesprochen werden.
Es stellt sich die Frage, gibt es eine rational begründete und legitime Wertschätzung eines Gemeinwesens – des eigenen wie anderer – und wenn ja, unter welchen Umständen. Habermas hat mit seinem Begriff „Verfassungspatriotismus“ versucht, das so zu konzeptualisieren, dass es nicht nationalistisch entgleist. Der Name ist unglücklich gewählt. Im Grunde ist der Verfassungskonsens gemeint oder allgemeiner noch: der Gesellschaftsvertrag. In der Sache könnte das ein brauchbarer Ansatz sein, wenn die Verfassung mit emanzipatorischen Werten wie soziale Gerechtigkeit, Solidarität, Demokratie, Friedfertigkeit und nachhaltigem Umgang mit der Natur verbunden ist. Allerdings: es wäre dann wieder eine ziemlich rationalistische Angelegenheit, der vermutlich die Kraft fehlt, die die großen Emotionen des Patriotismus und Nationalismus zu erzeugen vermögen.
2.3. Europäische Identität?
Da deutsche Identität und deutscher Patriotismus prekär geworden sind, gibt es ersatzweise das Bedürfnis nach einer europäischen Identität. Das klingt schon in dem bei jeder einschlägigen Podiumsdiskussion zu hörenden Bekenntnis an: „Ich als überzeugter Europäer…“ Aber es gibt auch regelrecht offizielle Versuche in diese Richtung. So klagte z.B. Joachim Gauck schon zu Beginn seiner Amtszeit: „In Europa fehlt die große identitätsstiftende Erzählung. Wir haben keine gemeinsame europäische Erzählung, die über 500 Millionen Menschen in der Europäischen Union auf eine gemeinsame Geschichte vereint, die ihre Herzen erreicht und ihre Hände zum Gestalten animiert.“
François Hollande antwortete kurz nach Antritt seiner Präsidentschaft auf die Frage was „die größte Gefahr für Europa“ sei: „Nicht mehr geliebt zu werden. Dabei ist Europa das schönste Abenteuer unseres Kontinents. Es ist die erste Wirtschaftsmacht der Welt, ein politischer Raum, der Maßstäbe setzt, ein soziales und kulturelles Modell.“ (SZ, 18.10.12) Das ist die klassische Mischung aus Kitsch und Größenwahn, wie sie auch den herkömmlichen Nationalismus zu kennzeichnen pflegt.
Für die Konstruktion eines solchen Euro-Patriotismus werden zwei klassische Komponenten in Anschlag gebracht:
• die Erzeugung von Stolz durch das Narrativ von den „europäischen Werten,“ und
• die Konstruktion eines äußeren Feindbildes, gegenwärtig vor allem gegenüber dem Islam und Russland (personalisiert auf Putin) als Inkarnation des Bösen.
Als europäische Werte werden in offiziellen Reden immer wieder zitiert: Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Die sind alle drei natürlich durchaus ehrenwert. Aber die Liste hat vielsagende Lücken. Es ist kein Zufall, dass Solidarität bzw. soziale Gerechtigkeit, also die dritte Komponente von Liberté – Egalité – Fraternité, fehlt. Das Gleiche gilt für Frieden, obwohl durch den Westfälischen Frieden oder Immanuel Kants Schrift Vom Ewigen Frieden Europa hier Bedeutendes hervorgebracht hat. Auch später, nach dem Zweiten Weltkrieg, gibt es mit dem Konzept der friedlichen Koexistenz und der Politik der Entspannung bemerkenswerte Erfahrungen mit Friedenspolitik. Gerechtigkeit und Frieden passen aber weder zur neoliberalen Verfasstheit, noch den Militarisierungstendenzen, wie sie seit dem Bratislava-Gipfel offizielle Politik sind sowie den immer unverhohlener formulierten Supermachtambitionen, wie sie z.B. die Außenbeauftragte der EU formuliert. (Die Welt, 13.7.2016)
Hinzu kommt, dass es keine europäische Nation und kein europäisches Staatsvolk gibt. Stattdessen sind die nationalen Identitäten in den meisten Mitgliedsstaaten so stark, dass die Liebe zur EU für sehr lange Zeit keine Chance hat. Vor allem bei den Mitgliedsländern im Osten war die Mitgliedschaft in der EU in hohem Maße davon motiviert, endlich als souveräner Nationalstaat auftreten zu können. Aber auch im Westen war eine der Funktionen der Integration die Einbindung und Zähmung Deutschlands durch ein größeres Ganzes, nicht aber die Aufgabe der eigenen Identität. Die deutsche Linke muss sich der Einsicht stellen, dass die anderen Länder, und dort auch oft die Linke, keineswegs scharf darauf sind, sich noch enger mit den Deutschen einzulassen.
Die Rede von der europäischen Identität dementiert den Anspruch der EU, den Nationalismus zu überwinden. Denn würde der Traum vom Euro-Patriotismus wahr, würden die Gebrechen des klassischen Patriotismus in neuer Qualität reproduziert.
3. Internationalismus – Metamorphosen eines Begriffs
Der Internationalismus stammt historisch von der Linken ab, war herrschaftskritisch, sollte der Emanzipation des Proletariats dienen und richtete sich dementsprechend gegen die kapitalistischen Eliten. Internationalismus war die grenzüberschreitende Solidarität der Subalternen aller Länder gegen die herrschenden Klassen aller Länder.
Zwar hat dieser Internationalismus im 20. Jahrhundert beträchtliche Beschädigungen hinnehmen müssen – so z.B. mit dem Einschwenken der europäischen Sozialdemokratie auf die Linie des Burgfriedens im Ersten Weltkrieg, oder mit seiner Instrumentalisierung durch den Staatssozialismus von Stalin, über Mao bis Breschnew – aber als normative Orientierung wird er von der Linken nach wie vor in Ehren gehalten.
3.1. Die neoliberale Vereinnahmung des Internationalismus
Allerdings ist festzustellen, dass sich durch die Globalisierung des Kapitalismus die Rahmenbedingungen für Internationalismus verändert haben. Es gibt eine Umkehrung und Vereinnahmung des Internationalismus durch den herrschenden Diskurs. Die grenzenlose Freiheit der Kapitalströme und die interkontinentale Organisation der Wertschöpfungsketten durch transnationale Konzerne wird durch eine internationalistisch daherkommende Ideologie abgesichert. Die Verteidigung demokratischer, sozialer und ökologischer Standards gegenüber TTIP wird demgegenüber als Nationalismus diffamiert. Jene, gegen deren Interessen sich der Internationalismus ursprünglich, richtete, haben ihn für sich gekapert. Wenn man seinen emanzipatorischen Begriff von Internationalismus nicht mit den Neoliberalen teilen will, sollte man deren „Internationalismus“ deshalb besser als Globalismus bezeichnen.
Seine soziale Basis sind zum einen die Repräsentanten der herrschen Eliten – Manager, Politiker, Spitzenbürokraten – aber auch die Mittelschichten mit kosmopolitischem Habitus. Sie gehören in vielerlei Hinsicht zu den Gewinnern der Globalisierung. Sie bedürfen des Schutzes des Sozialstaates nicht. Sie sind gebildet, mobil, liberal, individualistisch, kulturell offen und können sich in der Weltsprache Englisch ausdrücken. Sie siedeln in den Global Cities, den Agglomerationen von London, New York, Paris, Frankfurt, LA und Shanghai. Ihre Rollkoffergeschwader sind auf allen internationalen Airports zu Hause. Sie glauben, mit ihrem kulturellen Kapital überall arbeiten und verdienen zu können. Ihre Kinder studieren und machen Praktika auf allen Kontinenten. Sie repräsentieren die Kultur der Globalisierung. Medien und Kulturindustrie tragen dazu bei, die globalistische Lebensweise zum allgemeinverbindlichen Leitbild zu erheben. Der Klassencharakter ihrer privilegierten Lebensweise verschwindet hinter einer glamourösen Fassade.
Zudem erkennen sie nicht, dass ihre liberal-individualistische Lebensweise in hohem Maße heteronomen Interessen unterliegt. Ihr konsumintensiver und ökologisch fragwürdiger Lifestyle wird bestimmt von den Verwertungsinteressen transnationaler Unternehmen, deren Avantgarde die digitale Wirtschaft ist. All die Google, Facebook, Apple kommen jedoch aus einem einzigen Land, den USA und sind Projektion der ökonomischen Macht und der Soft Power der USA. Insofern ist ihr scheinbarer Universalismus tatsächlich das Produkt eines einzigen Nationalstaates.
Politisch verstecken die globalen Eliten hinter der Anrufung des Internationalismus die Aufkündigung der in den Nationalstaaten erkämpften Klassenkompromisse. Die ökonomischen und sozialen Verwerfungen des Neoliberalismus produzieren daher auch in den kapitalistischen Zentren mehr Verlierer als Gewinner.
Erst durch den Brexit und die Wahl Donald Trumps scheint die Erkenntnis zu dämmern, dass das Ganze eine Blase gewesen sein könnte, die sich von der Lebenswirklichkeit der intellektuell, geographisch und sozial weniger mobilen Mehrheit der Menschen abgelöst hat. Die revanchieren sich jetzt, indem sie rechten Parteien ihre Stimme geben.
3.2. Die Dialektik von Nationalstaat, Sozialstaat und Internationalismus
Es war schon immer ein Missverständnis, dass der Internationalismus den Nationalstaat in Frage stellen würde. Proletarier aller Länder vereinigt Euch! meinte nie die Abschaffung dieser Länder, sondern eine Allianz der Subalternen aller Länder, gegen die Herrschenden aller Länder und nicht „Proletarier der Eurozone vereinigt Euch!“
Mit dem globalisierten Kapitalismus tritt aber auch die demokratische und soziale Schutzfunktion des Nationalstaats, die ein oberflächlicher Anti-Nationalismus gern übersieht, stärker in den Vordergrund. Gegenüber der geballten Macht der Global Player verfügt er immerhin noch über:
a. eine gewisse soziale Schutzfunktion für die Schwachen,
b. einige demokratische Spielräume für emanzipatorische Politik.
Beides steht unter Druck und soll weiter geschleift werden. Unter anderem mit Hilfe der neoliberalen Politiken der EU, den TTIPs und CETAs, den Two-Packs, Six Packs und Fiscal Compacts oder der Kapitalmarktunion. In Griechenland haben die EU-Institutionen, darunter die EZB, demokratische Selbstbestimmung bei der Wahl von Wirtschafts- und Sozialpolitik bereits platt gemacht.
Es wäre sträflich, im Namen des Internationalismus die Verteidigung dieser letzten Spielräume emanzipatorischer Politik als nationalistisch zu denunzieren und freiwillig aufzugeben, solange es dafür jenseits des Nationalstaates nicht mindestens gleichwertigen Ersatz gibt. Im Gegenteil, dem neoliberalen Supranationalismus der EU sind wieder Kompetenzen zu entziehen, nationale Parlamente, Demokratie und der Sozialstaat sind zu stärken. Den Plänen, eine Supermacht mit militärischer Komponente zu etablieren, ist entschieden entgegenzutreten. Das ist durch und durch emanzipatorisch und hat mit Nationalismus nichts zu tun, zumal es gemeinsam mit der Linken in anderen Ländern erkämpft werden muss. Es ist auch nicht das Ende der internationalen Zusammenarbeit der europäischen Staaten. Es ist nur eine andere Form der Kooperation, flexibel und differenziert. Ansätze dafür liegen vor, wie z.B. das Konzept von Fritz W. Scharpf, (Scharpf, Fritz W. (2014): After the Crash A Perspective on Multilevel European Democracy. MPIfG Discussion Paper 14/21.Köln) oder das von einem Dritten Weg für die Zukunft der EU.
4. Fazit
Nicht überall wo international drauf steht, ist auch emanzipatorischer Internationalismus drin. Und nicht alles was nationalstaatlich geschieht ist nationalistisch. Die Linke muss sich von der binären Logik – national = böse, international = gut – lösen. Die Sache ist ambivalent und widersprüchlich. Daher ist ein differenzierter Umgang mit dem Thema unumgänglich. Selbstredend sind dabei die o.g. Risiken, die in Nation und Nationalstaat stecken, ebenso zu bedenken wie die Instrumentalisierung des Internationalen durch den neoliberalen Globalismus.
Politisch ist das die Voraussetzung dafür, eigenständige, linke Positionen zu beziehen, sowohl beim Thema EU als auch beim Thema Globalisierung, die weder im Schlepptau von Linksliberalen, Sozialdemokratie und Grünen vor sich hindümpeln, noch Konzessionen an die Rechte machen.
Der Autor ist im Vorstand von WEED – Weltwirtschaft, Ökologie & Entwicklung und Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats von Attac.
Fussnoten des Autors wurden entweder in den Text eingefügt oder als Link im Text verarbeitet.
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