Chiles Lachsfarmen gefährden das maritime Ökosystem und die Existenz der lokalen Fischer
Noch in den 70er-Jahren galt Lachs als Delikatesse, die sich Mittelstandsfamilien zu besonderen Anlässen, etwa zu Weihnachten, gönnten. Wenn sonst Fisch auf den Tisch kam, waren es Kabeljau, Rotbarsch oder Seelachs (der mit dem Lachs weder verwandt noch verschwägert ist, sondern wie der Kabeljau zur Familie der Dorsche gehört), die im Nordatlantik gefangen werden. Inzwischen ist der rosafarbene Lachs, meist als Tiefkühlware dargeboten, deutlich preisgünstiger als die genannten weißfleischigen Fische. Der Billiglachs wird aber nicht auf See gefischt, sondern stammt aus Lachsfarmen, abgesperrten Becken, die meist in Buchten und Fjorden angelegt werden. Über 70 Prozent der weltweit konsumierten Zuchtlachse kommen aus zwei Ländern, Norwegen und Chile. Weil in Chile die Umweltauflagen laxer sind als zuhause, sind viele norwegische Unternehmen in der chilenischen Lachsproduktion aktiv. Die Zeche zahlt die lokale Bevölkerung, insbesondere die Fischer, deren Lebensgrundlagen durch die Lachsfarmen bedroht sind.
Chile ist nach Norwegen der größte Lachsproduzent weltweit. Es gibt über 1000 Lachszuchtfarmen im Süden des Landes, viele davon befinden sich in der Nähe der Insel Chiloé. Álvaro Montaña ist Mitglied der Initiative „Defendamos Chiloé – Lasst uns Chiloé verteidigen“. Er meint, dass die Lachsindustrie dafür verantwortlich ist, dass die traditionellen Fischer der Insel immer weniger Fisch und Muscheln einbringen. „Es gibt international einen wissenschaftlichen Konsens darüber, dass massive Algenvermehrung in Gewässern stattfindet, die besonders reich an Nährstoffen sind. Wichtigster Produzent von Nährstoffen im Meer sind die Fäkalien und die nicht verzehrten Futtermittel der Industrie. Eine Hypothese, die noch nicht nachgewiesen wurde, ist, dass der hohe Stickstoff- und Phosphorgehalt, den die Lachsindustrie verursacht, zur Algenvermehrung führt. Und das hat zur Folge, dass die Muscheln sterben.“
Tonnen von Fischmehl, Fäkalien, Chemikalien und Medikamenten sinken täglich aus den Zuchtkäfigen der Lachse hinab auf den Meeresgrund. Die Muschel- und Fischbestände in der Region haben stark nachgelassen. Mehr als die Hälfte der Fischbestände in Chile gilt als überfischt. Aktivist Álvaro Montaña hat eine Erklärung dafür: „Die Lachsindustrie schadet den kleinen Fischern auf eine Art und Weise, die kaum öffentlich diskutiert wird. Seit drei Jahrzehnten verwendet die Industrie einheimische Fische, um Fischmehl und Fischöl zu produzieren. Damit werden die Lachse gefüttert. Die gesamte chilenische Fischindustrie funktioniert, um die Lachse zu ernähren.“
Für eine Tonne Zuchtlachs werden drei bis fünf Tonnen einheimische Spezies benötigt, die zu Fischmehl verarbeitet werden.
Chile ist einer der größten Produzenten von Fischmehl weltweit.
Ein weiteres gravierendes Problem der Lachsfarmen sind Ausbrüche aus den Zuchtbecken. 2018 geriet das norwegische Unternehmen „Marine Harvest“ in die Schlagzeilen, weil aus dessen Zuchtfarm in Chile 700000 Lachse ausgebrochen waren. Es war einer der größten Lachsausbrüche, die Chile je erlebt hat. Dem Unternehmen zufolge war ein Unwetter die Ursache. Umweltorganisationen reagierten empört. So auch Estefanía Gonzáles, Meeresexpertin von Greenpeace Chile: „Es ist unglaublich, dass bei für den chilenischen Winter komplett normalen Klimabedingungen fast eine Million Lachse aus einer Zuchtfarm ausbrechen. Die einzige Erklärung dafür ist, dass das Unternehmen nicht die Mindeststandards erfüllt.“
Das Unternehmen stritt die Vorwürfe ab. Der Manager von „Marine Harvest“, Fernando Villarroel, beteuerte in einer öffentlichen Erklärung, dass die betroffene Zuchtfarm alle Standards erfüllt habe. Estefanía Gonzáles von Greenpeace zufolge sei der Fall aber keine Ausnahme. Immer wieder würden Lachse in großer Zahl aus den Zuchtfarmen ausbrechen und das habe schwerwiegende Auswirkungen auf das gesamte Ökosystem.
„Diese Lachse sind Fleischfresser. Das heißt, dass sie andere Spezies auffressen. Wenn sie andere nicht auffressen, dann stecken sie sie wahrscheinlich mit Krankheiten an. Sie können die Flüsse hinaufschwimmen und sich dort vermehren. Das führt zu einem Verschwinden der einheimischen Spezies, die die Lebensgrundlage der lokalen Bevölkerung sind.“
700-fache Dosis Antibiotika
Die Ausbrecherlachse sind also ein Problem für die Umwelt an den Küsten im Süden Chiles. Weil die Zuchtlachse aus dem Atlantik stammen, ist es für sie schwerer, in chilenischen Zuchtfarmen im kälteren Pazifik zu überleben. Also wird ein Großteil mit Antibiotika behandelt. Zahlen von Greenpeace zufolge werden die Lachse in Chile mit einer 700-fach höheren Dosis Antibiotika behandelt als in Norwegen. Das habe auch Auswirkungen auf die Gesundheit von uns Konsument*innen, erklärt die Meeresexpertin von Greenpeace: „Die Weltgesundheitsorganisation hat empfohlen, keine so hohen Dosen von Antibiotika anzuwenden, wenn ein Produkt für den menschlichen Konsum vorgesehen ist. Denn es kann zur Resistenz des Menschen gegenüber Antibiotika führen, wenn er sie für die Bekämpfung einer Krankheit braucht.“
Das norwegische Unternehmen „Marine Harvest“ verzeichnet die meisten Fischausbrüche in der Region. Zahlen des chilenischen Umweltministeriums zufolge sind seit 2010 zwei Millionen Lachse aus den Zuchtfarmen von „Marine Harvest“ ausgebrochen.
Zuchtlachse sind größer und aggressiver als Wildlachse und ernähren sich von kleineren Fischen. Umweltorganisationen fordern deshalb, die ausgebrochenen Fische offiziell zur Plage zu erklären. „Der natürliche Instinkt der Lachse ist es, die Flüsse hinaufzuschwimmen. Dort können sie zum Feind für die einheimischen Fische werden, die sie entweder auffressen oder mit Krankheiten anstecken“, sagt Gónzales.
Dem chilenischen Gesetz zufolge hat ein Unternehmen 30 Tage Zeit, um zehn Prozent der ausgebrochenen Fische wieder einzufangen, bevor es eine Strafe zahlen muss oder ihm die Lizenz entzogen wird. „Zehn Prozent ist ein symbolischer Wert, der nichts mit dem ökologischen Schaden zu tun hat, den die ausgebrochenen Lachse verursachen. Das zeigt, dass die Gesetze zum Vorteil der Lachsindustrie gemacht werden“, kritisiert Juan Carlos Cárdenas, Tiermediziner und Direktor der chilenischen Nichtregierungsorganisation „Ecoceanos“, die sich für Meeresschutz einsetzt.
Als Marine Harvest nach 30 Tagen noch nicht einmal die Hälfte der erforderten Menge eingefangen hatte, verlängerte die chilenische Regierung die Frist auf 60 Tage. Um die Lachse schneller wieder einzufangen, bot Marine Harvest den lokalen Fischern eine Zahlung von 7000 chilenischen Pesos, umgerechnet etwa zehn Euro, pro Lachs – tot oder lebendig.
Wild-West
„Diese Maßnahme ist gesetzeswidrig. Aber im Süden Chiles herrscht eine Art ‚Wild West‘ der Lachsindustrie. Die Lachsunternehmen machen ihre eigenen Gesetze. Der Staat hat weder das Personal noch die Infrastruktur und die finanziellen Mittel, um die Regulierungen zu überprüfen”, sagt Cárdenas. Außerdem sind Unternehmer aus der Lachsindustrie häufig in der Politik tätig, so zum Beispiel Felipe Sandoval, einst Staatssekretär für Fischerei und jetzt Präsident von Salmón Chile, dem größten Lachsindustrieverband.
„Die ausgebrochenen Lachse, die Fischmehlproduktion und die Wasserverschmutzung durch chemische Mittel der Lachsindustrie stellen eine Gefahr für die einheimischen Spezies dar. Und die sind die Lebensgrundlage für die lokalen Fischer“, sagt Álvaro Montaña von der Vereinigung „Defendamos Chiloé“.
Nach Norwegen ist Chile der zweitgrößte Lachsproduzent der Welt. Lachse sind nach Kupfer der wichtigste Exportartikel des südamerikanischen Landes. 98 Prozent der Produktion werden exportiert, der Großteil nach Japan, China, Brasilien, in die USA und nach Europa.
„Die Lachsindustrie bringt der chilenischen Bevölkerung keinerlei Vorteile. Die einzigen Gewinner sind die transnationalen Unternehmen. Der günstige Preis, für den die Konsumenten in Europa den Lachs kaufen, spiegelt nicht die realen Kosten der Produktion wider, die von der Umwelt, den Fischern und den Arbeitern in Chile getragen werden“, sagt Cárdenas von Ecoceanos.
Die Umweltorganisationen in Chile rufen deshalb zu einem Boykott von chilenischem Lachs auf. Sie fordern stärkere Regulierungen der Lachszucht in Chile und höhere Strafen für die Unternehmen, die Umwelt- und Sozialstandards missachten.
Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus ila 460 Nov. 2022, hrsg. und mit freundlicher Genehmigung der Informationsstelle Lateinamerika in Bonn.
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