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Fall Amri – Organisierte Unverantwortlichkeit

Hans-Christian Ströbele rang nach der Sitzung des parlamentarischen Kontrollgremiums am vergangenen Montag sichtlich um Fassung. So ein Behördenversagen, an dem niemand Schuld sei, habe er in seinem Leben noch nicht erlebt. Den ironischen Unterton, der an rechtsstaatlichen Galgenhumor grenzte, verstanden nicht alle. CDU-Ausschussvorsitzender und SPD-Obmann ergingen sich in langatmigen Erklärungen, warum der neunzehnseitige, vertrauliche Bericht des Bundeskriminalamts über die Chronologie Anis Amri so überraschend wenig über Verantwortlichkeiten der beteiligten Sicherheitsbehörden enthalte.

In der Tat ist es bei der Lektüre des Papiers schwer zu erkennen, inwieweit Landeskriminalamt NRW, Verfassungsschutz NRW, Ministerium für Inneres und Kommunales oder die Ausländerbehörden Kleve und Oberhausen, Verfassungsschutz und Landeskriminalamt Berlin, Generalstaatsanwaltschaft Berlin, die dortige Landesausländerbehörde oder Bundesamt für Verfassungsschutz, Bundeskriminalamt, Bundesanwaltschaft, BAMF oder der Bundesinnenminister nun jeweils für Amri verantwortlich waren. Aber trotzdem ist der Bericht interessant und wirft neue Fragen auf.

* So war spätestens am 17. Februar 2016 die Identität des 2015 nach Deutschland eingereisten Anis Amri für alle beteiligten Behörden klar. Er wird als Gefährder eingestuft und das LKA NRW prüft aufenthaltsbeendende Straftatbestände. Vertrauenspersonen berichten, er habe versucht, Schnellfeuerwaffen zu kaufen und er heiße die “Tötung von Ungläubigen” gut. Ungewöhnlich daran ist, dass es sich hierbei um Aussagen polizeilicher V-Leute handelt, die diese Vorfeldbeobachtungen durchführen, für die eigentlich die Verfassungsschutzbehörden zuständig sind. Die Generalstaatsanwaltschaft Berlin eröffnet im März ein Strafverfahren wegen Beteiligung an einem Mordversuch (§§ 30, 211 StGB) und weitere V-Leute berichten, dass Amri die Anschläge in Brüssel billigt und einen Selbstmordanschlag mittels Sprengstoffgürtel andeutet. Im Zuge dieses Verfahrens werden ab 4.April 2016 bis zum 21.September Telefonüberwachungsmaßnahmen (TKÜ), zum Teil unter Einsatz eines IMSI-Catchers durchgeführt. Allein der Einsatz dieser aufwendigen Observationstechnik zeigt, dass seine Gefährlichkeit hoch eingeschätzt wurde und die Beobachtung Priorität gehabt haben muss.

* Während ihm die Sicherheitsbehörden bereits nah auf den Fersen sind, wird ihm noch am 29. März in Oberhausen eine (falsche) Bescheinigung über die Meldung als Asylbewerber (BüMA) auf den Namen Ahmed Almasri ausgestellt, die ihm die Wohnsitznahme mit der Auflage “nur in Oberhausen” erlaubt. Da er gegen diese Auflage verstieß, hätte sich auch hieraus ein Rechtsgrund ergeben, gegen ihn mit weitergehenden ausländerrechtlichen Sanktionen vorzugehen, was unterblieb.

* Im April 2016 ist Amri Gegenstand der 1319. Sitzung des Informationsaustauschs von Bund und Ländern als Gefährder. Die verschiedenen ausländerrechtlichen Verstöße und weitere Delikte, wie u.a. gewerbsmäßiger Betrug und Falschbeurkundung, sollen nun zu einem Haftantrag verdichtet werden. Man scheint seiner habhaft werden zu wollen. Am 14.4. wird jedoch der auf Initiative des LKA NRW beantragte Haftbefehl von der Staatsanwaltschaft – nicht etwa von einem Richter – in Duisburg abgelehnt. Hier stellt sich die Frage, ob und wie gut die Staatsanwaltschaft über die Erkenntnisse des LKA und der Bundesanwaltschaft über den Gefährder Amri informiert war, ob der Haftantrag schlampig begründet war, oder warum die Staatsanwaltschaft nichts über die Gefährlichkeit des Verdächtigen wusste.

* Nun bewegt sich Amri in der Folgezeit unter TKÜ häufig zwischen Berlin und NRW hin und her. Er begeht viele kriminelle Handlungen, dealt und konsumiert Kokain und Ecstasy, prügelt sich im Drogenmilieu und versuchte gar Ende Juli, die Bundesrepublik richtung Italien zu verlassen – wird aber daran am 29.7./1.8. durch die Bundespolizei gehindert. Dass er mindestens neun verschiedene Identitäten benutzt, sein Asylantrag inzwischen als offensichtlich unbegründet abgelehnt wurde, ist den Sicherheitsbehörden bekannt. Trotzdem wird sein Aufenthalt in der Abschiebehaftanstalt Ravensburg aufgrund einer Intervention der Landespolizei Friedrichshafen nach einem Tag beendet. Man fragt sich, wieso? Das anhängige Strafverfahren wegen Urkundenfälschung wurde durch die Staatsanwaltschaft Ravensburg nach §154f (Einstellung des Verfahrens bei vorübergehenden Hindernissen…wie z.B. Abwesenheit) vorläufig eingestellt. Amri kassiert derweil unter den Augen der Sicherheitsbehörden am 17.8. in Emmerich Staatsknete als Flüchtling unter dem Namen Ahmed Almasri.

* Danach kehrt er nach Berlin zurück und ist wieder, wie schon seit Februar 2016 kontinuierlich, Thema der Koordinierungssitzungen von Bund und Ländern. Am 17.8. wird festgelegt, dass die Bearbeitungszuständigkeit wegen der häufigen Ortswechsel nun in NRW stattfindet, jedoch hält er sich ab 18.8. zumeist in Berlin auf. Die Kölner und NRW-Behörden treiben aufenthaltsbeendende Maßnahmen weiter, während am 21.9. die TÜ-Maßnahme Berlins ausläuft. Verfassungsschutz oder Polizei überlegen in solchen Fällen in der Regel, ob sie eine Zielperson engmaschig weiter verfolgen, oder die Maßnahme beenden, wenn sie keine verwertbaren Ergebnisse liefert. Zu entscheiden ist dann, mit anderen Mitteln, einer Observation oder durch V-Leute die heimliche Beobachtung weiter zu führen oder die Polizei zu informieren, Meldeauflagen zu verhängen, um dem Gefährder durch offene Ansprache klar zu machen, dass der Staat ihn im Auge hat. Im Fall Amri wird offensichtlich nichts dergleichen entschieden, er kann unbeobachtet abtauchen. Die LKA in NRW und Berlin unternehmen – nichts. Stattdessen versuchen die Ausländerbehörden Kleve und Emmerich bis zum 2.11. wiederholt im Abstand von 14 Tagen, so naiv wie vergeblich, das Phantom Amri in seiner Unterkunft anzutreffen.

* Am 13.10. wird Amri als “Foreign Fighter” im INPOL und SIS Datensystem ausgeschrieben. Der inzwischen als IS- Anhänger erkannte Amri ist plötzlich wieder mit wörtlichen Zitaten im Fokus der Landeskriminalämter. Sie wissen, dass er Deutschland als “Land des Unglaubens” bezeichnet und gerade “ein Projekt ausführe”, hatten also möglicherweise wieder neue Informationen durch ihre V-Leute über Amri.

* Eine Entscheidung der NRW-Justiz sechs Wochen später lässt zweifeln, ob sie eigentlich wusste, was sie tat: obwohl Amri im Oktober als “Foreign Fighter” international ausgeschrieben wird, passiert etwas Seltsames: das vom LKA beantragte Strafverfahren gegen Amri wird am 23.11.2016 nach 154b StPO (Absehen von Verfolgung bei Auslieferung und Ausweisung) eingestellt, möglicherweise rechtsfehlerhaft, denn weder eine Auslieferung, noch eine Ausweisung – nach Worten Jägers nicht einmal Abschiebehaft – waren zu diesem Zeitpunkt im Fall Amri möglich. Was Innenminister und Ermittlungsbehörden über seine Gefährlichkeit wussten, erreichte die Staatsanwaltschaft Duisburg offensichtlich wieder nicht. Wie schon im April.

* Stattdessen stellt das Innenministerium NRW (MIK) Überlegungen an, das BMI zwecks Unterstützung bei der Passersatzbeschaffung einzuschalten, nimmt aber aus unerfindlichen Gründen Abstand davon. Es stellt am 24.10. erneut einen Antrag bei der tunesischen Botschaft auf Ausstellung von Passersatzdokumenten. Am 28.10. stellt der Verfassungsschutz NRW fest, dass sich ein Handy des Beschuldigten in Berlin/Brandenburg ins Netz einbucht. Er ist am 2.11. Thema auf der 1444. Sitzung des Bund-Länder Informationsaustauschs, aber es ist nicht bekannt, für wie gefährlich man ihn noch hält und ob es überhaupt noch Anstrengungen gibt, ihn zu observieren. Er ist “Foreign Fighter” und wird trotzdem zum ausländerbehördlichen Aktenvorgang. Am 5.12. wird er von Amts wegen in Emmerich abgemeldet, seine Akte wird am 14.12. entsprechend ergänzt.

Zwei Tage, bevor am 21.12. seine Papiere aus Tunis bei der ZAB Köln eintreffen, begeht Anis Amri alias Ahmet Almasri am 19.12. den tödlichen Anschlag auf dem Weihnachtsmarkt in Berlin.

Diese Fakten legen eine erschreckend organisierte Unzuständigkeit aller beteiligten Behörden offen. Die Frage ist aufzuwerfen, was die Einstufung eines mutmaßlichen Terroristen als “Gefährder” eigentlich für einen Stellenwert hat und welche Rechtsfolgen daran geknüpft werden. Neue Gesetze, wie sie Ralf Jäger nach dem Innenausschuss des Landtags vorgestern weinerlich forderte, braucht niemand, solange die Vorhandenen nicht einmal angewendet werden. Es fehlt ein abgestimmtes und konsequentes Vorgehen gegen Gefährder – auch unter Einbeziehung der Staatsanwaltschaft. Es wird monatelange Aufklärungsarbeit erfordern, aufzuklären und zu bewerten, wer wann für welche Entscheidung verantwortlich war, und warum Amri ausländerrechtliche Straftaten, Drogendelikte, Körperverletzung und Verstöße gegen Waffengesetze, sowie letztlich terroristische Straftaten am laufenden Band praktisch unter den Augen der Sicherheitsbehörden vollenden und versuchen konnte und trotzdem nicht belangt wurde.

Zumindest die Berliner Polizei kann auch anders. Das hat sie im Fall Volker Beck unter Beweis gestellt, der mit “0,6 Gramm einer betäubungsmittelverdächtigen Substanz” erwischt wurde und im Handumdrehen öffentlich am Pranger stand. Der kürzliche Regierungswechsel in Berlin, die Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen im Mai, sowie die Bundestagswahl im September werden eine sachliche Aufklärung unter dem Druck der Wahlkampfschlachten sicher nicht erleichtern. Weder die Große Koalition in Berlin, noch die in Nordrhein-Westfalen für das Innenministerium verantwortliche SPD werden sich gerne nachweisen lassen, versagt zu haben. Alle wissen, dass der Wahlausgang sowohl in NRW, als auch im Bund bedeuten kann, dass man möglicherweise am Ende in der GroKo wieder an einem Tisch sitzt. Dass die AfD vom Sicherheitsthema profitiert, will niemand – weder FDP und CDU Opposition in Nordrhein-Westfalen, noch Grüne und Linke Opposition im Bundestag. Denkbar schlechte Rahmenbedingungen für eine umfassende Aufklärung.

Stattdessen ist zu befürchten, dass sich der bereits von Innenminister De Maizière, Sigmar Gabriel und der CSU begonnene Kampf um die sicherheitspolitische Lufthoheit über den Stammtischen bis in den Herbst fortsetzen wird. Fraglich ist, ob sich Grüne und FDP noch trauen, für Besonnenheit und Bürgerrechte, für Augenmaß und rationale Argumente und Aufklärung einzutreten und wenn ja, ob sie damit überhaupt durchdringen. Nicht mehr oder weniger als die Glaubwürdigkeit des Rechtstaats hängt davon ab.

Dieser Beitrag erscheint auch bei rheinische-allgemeine.de

Über Roland Appel:

Roland Appel ist Publizist und Unternehmensberater, Datenschutzbeauftragter für mittelständische Unternehmen und tätig in Forschungsprojekten. Er war stv. Bundesvorsitzender der Jungdemokraten und Bundesvorsitzender des Liberalen Hochschulverbandes, Mitglied des Bundesvorstandes der FDP bis 1982. Ab 1983 innen- und rechtspolitscher Mitarbeiter der Grünen im Bundestag. Von 1990-2000 Landtagsabgeordneter der Grünen NRW, ab 1995 deren Fraktionsvorsitzender. Seit 2019 ist er Vorsitzender der Radikaldemokratischen Stiftung, dem Netzwerk ehemaliger Jungdemokrat*innen/Junge Linke. Er arbeitet und lebt im Rheinland. Mehr über den Autor.... Sie können dem Autor auch im #Fediverse folgen unter: @rolandappel@extradienst.net

Ein Kommentar

  1. Martin Böttger

    Thomas Moser, der nebenan bei telepolis.de eine exzellente Serie über die NSU-Mordermittlungen geschrieben hat, sieht, ähnlich wie ich, Parallelen in den Vertuschungsreflexen der Dienste und Behörden bei beiden Mordserien, hier nachzulesen:
    https://www.heise.de/tp/features/Gestern-NSU-heute-Amri-3604524.html

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