Wer syrische und afghanische Kriegsopfer mehr fürchtet als Recep Tavyip Erdogan, der darf sich nicht wundern, wenn er von diesem am Nasenring durch die politische Arena gezogen wird. Die Bundesregierung fürchtet die Flüchtlinge, und damit den deutschen rechtsradikalen Widerstand gegen sie, mehr, als einen paranoiden Diktator in heftiger Wirtschaftskrise. Sie dreht ihm vielleicht den einen oder anderen Hallenlautsprechersaft ab, bzw. lässt das von Bürgermeistern erledigen, aber keineswegs den ökonomischen Saft. Er, dieser “Nato-Partner”, ist ja auch ein attraktiver Kunde der Spitzenleistungen deutscher Rüstungsindustrie. Peinlicher gehts kaum. Doch es wird noch schlimmer kommen.

Derzeit wird spekuliert, Erdogan könne sein Ermächtigungsreferendum verlieren. Was würde dann passieren? FAZ-Kolumnist Mumay erwartet, belegt mit Zitaten von AKP-Politikern, dann den “Bürgerkrieg”. Kann gut sein, ich fürchte sogar: wahrscheinlich. Dieser Bürgerkrieg wird sich aber nicht mehr auf die Türkei begrenzen, sondern überall dort ausbreiten, wo Türk*inn*en leben, also insbesondere zu uns. Darauf legt es Erdogan mit seinen bedacht-eskalierenden öffentlichen Äußerungen bereits an. Was er da vorhat kann klappen.

Es wäre die logische Konsequenz unseres jahrzehntelangen Desinteresses an allem Türkischen. Die Menschen, die zu uns kamen, haben uns nicht interessiert, nur ihre Produktivität. Ihr Essen haben wir gerne genommen, Sprache und Kultur waren uns dagegen zu schwierig, ihre Sache, ging uns nichts an. Der faschistische Militärputsch 1980, die Ausserkraftsetzung aller demokratischen Rechte, der damalige Massenmord an linken Oppositionellen, hat unsere Öffentlichkeit nicht interessiert – im Schatten dieses gesellschaftlichen Desinteresses haben unsere Bundesregierungen das im Rahmen der Nato sogar aktiv unterstützt. Eine Folge dieser Konstellation: türkische und kurdische Oppositionelle entwickelten eine Kultur des politischen Untergrundes: Klandestinität, Verschwörerei, Sektierertum, Führerkult, misstrauische Unfähigkeit zu wirksamer Bündnispolitik – Erfolglosigkeit in liberalen Gesellschaften als logische Folge. Ein Element der später so genannten “Parallelgesellschaften”.

Flüchtlinge werden uns so nicht vom Hals gehalten – im Gegenteil. Die Türkei hat knapp 80 Mio. Einwohner*innen. Nehmen wir an, die Hälfte ist gegen Erdogans Referendum, in seiner Weltsicht also Terrorist*inn*en. Macht rund 40 Mio. potenzielle politische Flüchtlinge. Wäre die EU geschlossen aufnahmebereit, wäre selbst das zu “schaffen”, aber wir wissen ja, wie es ist.
Eine Türkei im Bürgerkrieg würde als Aufnahme- bzw. Aufhalteland syrischer, irakischer und afghanischer Flüchtlinge nicht mehr funktionieren.

Die Fehler, die die Bundesregierung mit Erdogan gemacht hat, macht sie gegenwärtig mit weiteren maroden Diktaturen. Merkel war gerade in Ägypten. Hat sie dort was gelernt? Kann sein, sie liess es die Öffentlichkeit nicht merken.
Libyen, die Krönung dieser Art Politik, wie Afghanistan von Warlords beherrscht, soll Lager einrichten. Die EU schult die “Küstenwache”. Verbrecherischer geht es kaum.
Algerien, das marode System versteckt sich hinter einem greisen todkranken Präsidenten, bar jeder Glaubwürdigkeit vor der eigenen Bevölkerung, die immer noch traumatisiert ist von einem djihadistischen Bürgerkrieg in den 90er Jahren. Ohne die nach Frankreich gegangenen Migrant*inn*en, die dort Geldverdienen und nachhause schicken, wäre längst alles zuende.
Marokko, mit einer taumelnden aber immerhin Probleme sehenden Monarchie, alle Jungen, die Kontakt zur Welt haben, versuchen zügig wegzukommen, siehe Algerien.
Tunesien, die einzige aus dem “arabischen Frühling” übriggebliebene Demokratie, mit heftigsten sozialen Problemen immer in Lebensgefahr – ausgerechnet diese Regierung wird besonders aus Deutschland mit Terrorist*inn*en belästigt, die wir hier unbedingt loswerden wollen.
Diese Länder haben EU und Bundesregierung ausgeguckt, uns Flüchtlinge vom Hals und fernzuhalten, koste es Euros, was es wolle.

Nicht verzichtet wird auf “Freihandelsabkommen”, die afrikanische Volkswirtschaften an eigenständiger Entwicklung hindern, nicht verzichtet wird auf den korruptiven Kauf dortiger Eliten, nicht verzichtet wird auf rassistische Besserwisserei (“Good Governance”, haben wir das etwa bei uns?), nicht verzichtet wird auf die Abschottung des EU-Marktes durch Agrarsubventionen (Größter Posten des EU-Etats), also das was China z.B. bei der Solarenergie vorgeworfen wird. Nicht verzichtet wird auf Landgrabbing und das Leerfischen von Küstengewässern durch industrielle Trawlerflotten.

Strategie der Bundesregierung ist, im Südsahara-Raum beginnend mit Mali, folgend Niger u.a. einen militärischen Fuss in die Tür zu bekommen, als Assistent des überlasteten Ex-Kolonialherren Frankreich. Doch die militärische Karte ist mehr ein öffentliches Dokument der Verzweiflung. China erobert alle diese Märkte ökonomisch, ohne Rassismus, ohne “Good-Governance-“Belehrungen, aber mit überbordenden und nützlichen Investitionen und beinhart auf den eigenen wirtschaftlichen Vorteil bedacht. Es werden Geschenke in Gestalt von Straßen, Eisenbahnen, Technologien mitgebracht, die Eliten gekauft (wie von uns) und der Partner fachgerecht über den Verhandlungstisch gezogen, ganz ohne militärische Intervention. Beliebt machen sie sich so nirgends, aber Geschäfte – und schiessen niemand tot.

Was unsere Regierungen dagegen anrichten, in ihrer Dialektik aus Fluchterzeugung und Flüchtlingsbekämpfung, es könnte die autoritären Herren in Washington, Moskau und Beijing köstlich amüsieren. Wie die EU sich als Konkurrent um die ökonomische und politische Weltherrschaft selbst aus dem Spiel nimmt. Wenn es sie überhaupt noch interessiert. Wahrscheinlich nicht mehr, genug eigene Probleme.

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
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