von Ulrich Horn
Die Union erlebt eine Zeitenwende. 2018 gab Merkel den CDU-Vorsitz ab. 2021 wird sie das Kanzleramt freigeben. Wer wird sie beerben? Die Berichterstatter spekulieren, was die Phantasie hergibt. Dabei wissen sie sehr wohl, dass Mutmaßungen müßig sind. Gewissheit gibt es erst im Nachhinein. Sie wird sich schrittweise einstellen, mit der Wahl des CDU-Chefs im Dezember und der Bundestagswahl 2021. Was man heute kennt, ist der Kontext, in dem die Unionsparteien und ihre Kandidaten agieren.

Starke CSU nötig

Die Union steht vor der Aufgabe, sich in einen Zustand zu bringen, in dem sie auch ohne Merkels Erfahrung und Prestige die nächste Bundesregierung bilden kann. Es gilt, das Loch zu stopfen, dass Merkel mit ihren Ausscheiden reißt. CDU und CSU versuchen gerade, die Voraussetzungen zu schaffen.

Beiden Schwesterparteien ist daran gelegen, einigermaßen reibungslos zu kooperieren und sich breit aufzustellen. Sie nutzen dazu auch die deutsche EU-Ratspräsidentschaft. Differenzen werden klein gehalten. Offenen Streit wie über die Zuwanderung will die Union vermeiden. Machtkämpfe würden sie gewiss wie 2017 und 2018 viele Wähler kosten.

Will die Union sicherstellen, auch die nächste Bundesregierung anzuführen, muss sie bei der Wahl 2021 nahe an die 40-Prozent-Marke herankommen, sie womöglich sogar überspringen. Erreichen kann sie dieses Ziel nur, wenn die CSU dicht an die 50-Prozent-Marke rückt. Diese Aufgabe ist nicht leicht.

Als Wahlkämpfer zweit-, wenn nicht drittklassig

Anders als früher kann die CSU heute diese Stärke nicht mehr garantieren. Bei der Bayern-Wahl 2018 trat sie erstmals mit Söder an der Spitze an. Er handelte sich eine krachende Niederlage ein. Die CSU verlor die absolute Mehrheit. Mit 37,2 Prozent erzielte Söder das schlechteste Ergebnis seit 1950, für einen Aspiranten auf die Kanzlerkandidatur ein miserabler Qualitätsausweis.

Heute, zwei Jahre später, wird Söder sogar zugetraut, er könne die nächste Bundestagswahl gewinnen. Seine Niederlage im eigenen Land scheint vergessen. Als Spitzenkandidat agierte er im Wahlkampf zweit-, wenn nicht gar drittklassig. Schnitte die CSU bei der Bundestagswahl so schwach ab wie bei der Bayernwahl, wäre das Kanzleramt für die Union verloren.

Anders als vielen Spekulanten in den Medien scheint vielen Spitzenkräften der Union bewusst zu sein, dass die CSU für den Wahlerfolg 2021 eine Schwachstelle darstellt und man ihr auf die Beine helfen muss. Sie selbst strengt sich nach Kräften an. Söder wechselte gleich nach seinem Misserfolg bei der Bayernwahl abrupt seinen Kurs. Er bemüht sich, die CSU breiter aufzustellen und sie inhaltlich auf die Höhe der Zeit zu bringen.

Windige Spekulationen

Dieses Manöver zahlt sich aus. Auch sein paternalistischer Auftritt in der Corona-Krise trug dazu bei, ihn und die CSU in den Umfragen zu stärken. Hilfreich sind auch die windige Spekulation, er könnte Kanzlerkandidat werden. Sie steigert sein Renommee. Sie läßt ihn und die CSU in Bayern stark erscheinen. Diesem Zweck diente auch Merkels spektakulärer Bayern-Besuch.

Die Inszenierung schürte erneut die Spekulation über Söders Kanzlerkandidatur. Dabei zeugt das Treffen zunächst nur vom Bemühen der beiden Schwesterparteien, ihren jahrelangen Machtkampf öffentlichkeitswirksam zu den Akten zu legen. Auch bei diesem Anlass betonte Söder, er werde in Bayern bleiben. Doch je häufiger er die Absicht bekräftigt, desto lauter wird über seinen Wechsel nach Berlin fabuliert.

Die Spekulation über den Kanzlerkandidaten legt nahe, sich an ihr zu beteiligen, weil in der CDU das kanzlerfähige Personal rar ist. Das Gerede über Söder findet längst auch in der CDU Resonanz. Es trägt dazu bei, das Gewicht der CSU im Verhältnis zur Schwesterpartei zu erhöhen und Söders Position gegenüber dem nächsten CDU-Chef aufzuwerten und zu stärken.

Dem Opportunismus geschuldet

Söder weiß: Es gibt gute Gründe gegen seine Kanzlerkandidatur. Das stärkste Wahlergebnis mit der CSU bei der Wahl 2021 kann wohl nur er in der Rolle des bayrischen Ministerpräsidenten erreichen. Wie oft hat er gesagt, sein Platz sei Bayern? Träte er als Kanzlerkandidat an, würde er unglaubwürdig. Dann geriete auch die mühsam zurückgewonnene Sympathie der CSU in Bayern in Gefahr.

Noch ist der CSU-Chef in Umfragen ein Riese. Doch Giganten schrumpfen schnell zu Zwergen, wie sich 2017 beim damaligen SPD-Chef Schulz zeigte. Zuneigung und Zustimmung zu gewinnen, sind zwei Paar Stiefel. Auch Söder kocht nur mit Wasser. Auch ihm unterlaufen Fehler, die seine Umfrageblase platzen lassen können.

Durch Weit- und Umsicht ist er bisher nicht aufgefallen. Über Jahre verbiss er sich wie Seehofer gegen jede Vernunft in Merkel. Er ließ erst ab, als die Wähler die CSU rigoros abstraften. Dass er sich und die Union mit dem Kampf gegen die Kanzlerin schwächte, fiel ihm erst auf, als ihm Umfragen bescheinigten, dass er und Seehofer die CSU heruntergewirtschaftet hatten. Sein abrupter Kurswechsel nach der Bayern-Wahl war weniger seinen Überzeugungen als seinem Opportunismus geschuldet.

Als Niete erwiesen

Die CDU bestimmt im Dezember mit der Wahl ihres neuen Vorsitzenden auch ihren Aspiranten für die Kanzlerkandidatur. Drei Männer bewerben sich. Das Trio offenbart die Personalprobleme der Partei. Jeder Einzelne stößt auf Vorbehalte, die den Wahlchancen der Union abträglich sein können. Der Mangel an Spitzenkräften zeigt sich vor allem an den Kandidaten Röttgen und Merz.

Im NRW-Wahlkampf 2012 entpuppte sich Röttgen, damals Bundesumweltminister, CDU-Landeschef und Kandidat für das Amt des Ministerpräsidenten, in taktischen und strategischen Belangen als Niete. Statt Mitglieder und Anhänger zu mobilisieren, demotivierte er sie wie selten jemand in der Geschichte der bundesdeutschen Wahlkämpfe. Er bescherte der CDU das schlechteste NRW-Wahlresultat seit 1947. Röttgen hat das Zeug, die Union 2021 in die Opposition zu führen.

Noch weniger Erfolg als er hat Merz vorzuweisen. Für ihn spricht nur, dass auch seine Misserfolge kleiner ausfallen. Er schadete nicht der CDU, sondern sich selbst. Vor 20 Jahren führte er kurz die Bundestagsfraktion. Seit einem Jahrzehnt ist er aus dem politischen Geschäft. Er hatte nie ein Partei- und Regierungsamt und bestritt nie einen Wahlkampf als Spitzenkandidat. Seine Politikerkarriere scheiterte an zwei Frauen. 2002 ließ er sich von Merkel aus dem Fraktionsvorsitz drängen. 2018 schnappte ihm Kramp-Karrenbauer den Parteivorsitz weg. Nun bietet sich ausgerechnet dieser notorische Verlierer in Torschlusspanik der CDU als Hoffnungsträger und Erfolgsgarant an.

Schon eine Wahl gewonnen

NRW-Ministerpräsident Laschet ist der einzige aus dem Kandidatentrio, der schon einmal als Spitzenkandidat eine Wahl gewann. Schon vor der NRW-Wahl 2017 wurde er unterschätzt. Dennoch siegte er. Er war fünf Jahre lang Integrationsminister in NRW. Seit drei Jahren ist er dort Regierungschef. Seither bringt er das Kunststück fertig, in der Koalition mit der FDP und mit der Mehrheit von nur einer Stimme das größte Bundesland ziemlich reibungs- und konfliktfrei zu regieren.

Er hat die Weichen zur Sanierung und Modernisierung des Landes gestellt, das unter der siebenjährigen Untätigkeit seiner SPD-Vorgängerin Kraft zu ersticken drohte. Ob und in welchem Ausmaß sein Wirken in NRW Früchte tragen wird, ist noch nicht abzusehen. Er ist zu kurz im Amt, als dass sich Erfolg und Misserfolg gegeneinander abwägen ließe. Er hätte es als Kandidat für den CDU-Vorsitz sicher leichter, würde die Kanzlerkandidatur erst nach einem weiteren Sieg bei der nächsten NRW-Wahl 2022 anstehen.

Laschet zählt zu den Liberalen in der CDU. Seit seinem Wahlerfolg versucht er, die Landespartei breit aufzustellen und seine Standfläche in der Partei zu verbreitern. Er hat dafür gesorgt, dass sich im CDU-Teil seines Kabinetts die ganze Spannbreite der CDU abbildet. Während des Lockdown thematisierte er dessen Lockerung, um die Schäden für Unternehmen, Bürger und den Staat zu begrenzen. Dieses Vorgehen trug ihm Respekt im konservativen, wirtschaftsnahen Teil der Union ein, der dafür sorgt, dass die Wähler die Union in Wirtschaftsfragen für besonders kompetent halten.

Schaden begrenzen

Um bei der Kandidatur um den CDU-Vorsitz Vorbehalte gegen sich zu zerstreuen, schloss er sich mit Spahn zusammen. In den 15 Jahren, die Merkel regiert, schälte sich neben ihr kein Nachfolger heraus. Ihr Versuch, Kramp-Karrenbauer zu installieren, scheiterte. Würde Laschet Kanzler, wäre er der Erste, der seinen Kronprinzen mitbrächte. Mit Spahn im Gespann würde er die Weichen für die Zukunft der CDU stellen. Im Duett, so die Hoffnung, ließen sich der Nachwuchs der CDU und ihre Konservativen einbinden, die sich stets vernachlässigt fühlen.

Ob sich Spahn als Verstärkung erweist, ist noch nicht ausgemacht. Er ist noch nicht lange Gesundheitsminister. Es fehlt ihm noch Erfahrung. In der Corona-Krise läuft er der Entwicklung seit Beginn der Sommerferien hinterher. Er versäumte, die erste Urlaubswelle am Ende des Lockdown nur unter strengen Auflagen zu gestatten. Nun steigen die Fallzahlen. Weil es an Vorsorge fehlte, muss er nun den Schaden begrenzen, den er mitzuverantworten hat.

Seine Besorgnisse, Mahnungen und Warnungen wirken zunehmend hilflos. Je häufiger er sie äußert, desto dringender wüsste man gerne, was er tut, um sie zu verringern und selbst jene Bürger vor Gefahren zu schützen, die zum Schaden aller anderen darauf mutwillig keinen Wert legen. Wer weiß, ob seine Scheu, hart durchzugreifen, ihm und Laschet am Ende schaden?

Ein komplizierter Vorgang

Die Söder-Fanclubs müssen derzeit erleben, wie sich ihr Favorit ins Straucheln bringt. Er ordnete Tests an, kümmerte sich aber nicht darum, wie sie umgesetzt wurden. Viele Infizierte wurden zu spät informiert. Der Apostel der Vorsicht begünstigte unachtsam die zweite Corona-Blüte. Unwillkürlich denkt man an Söders Maxime: „Nur wer Krisen meistert, wer die Pflicht kann, der kann auch bei der Kür glänzen.“ Derartige Sprüche können sich Journalisten leisten. Kluge Politiker formulieren solche Maßstände nicht, an denen sie scheitern können.

Würde Söder Kanzlerkandidat, müsste er in Bayern seine Nachfolge regeln. Es wäre nicht leicht, aber machbar. Die CSU ist eine erfahrene Regierungspartei. Da Söder als Kanzler CSU-Chef bliebe, würde in Bayern nur ein geeigneter Kandidat für das Amt des Ministerpräsidenten gesucht. Wird Laschet im Dezember CDU-Chef mit der Aussicht auf die Kanzlerkandidatur, stellt sich ihm ein ähnliches Problem. Es wäre nur viel komplexer und viel schwerer zu lösen. Im Vergleich mit der CSU ist die NRW-CDU als Regierungspartei recht unerfahren.

Gesucht würde in NRW nicht nur ein Kronprinz, der Laschet als Ministerpräsident beerben könnte. Die NRW-CDU benötigt dann auch eine fähige Kraft, die den stärksten CDU-Landesverband als Landeschef in die NRW-Wahl 2022 führt. Sie findet nur ein gutes halbes Jahr nach der Bundestagswahl statt. Noch komplizierter wird der Vorgang dadurch, dass die schwarz-gelbe Koalition in Düsseldorf nur über die Mehrheit von einer Stimme verfügt.

Ein großer Kraftakt

Auch Laschets Kandidatur ist mit Risiken verbunden. Der Wechsel an der Spitze der NRW-CDU und des schwarz-gelben NRW-Kabinetts müsste reibungslos über die Bühne gehen. Der Wechsel dürfte weder die NRW-CDU noch ihre Koalition mit der FDP ins Schlingern bringen. Gelegenheiten für Unruhe in der CDU und der Koalition in NRW gäbe es mit Laschets Wahl zum CDU-Chef, der Nominierung zum Kanzlerkandidaten, der Bundestags- wie der Kanzlerwahl und den Koalitionsverhandlungen im Bund genug. Käme es in der NRW-CDU zu Machtkämpfen oder gar zum Bruch der NRW-Koalition, könnten die Folgen für Laschet und die Union zum Desaster werden.

Sollte er bei der Wahl zum CDU-Vorsitzenden durchfallen oder später als Kanzlerkandidat die Bundestagswahl 2021 verlieren, wäre er als Ministerpräsident schwer angeschlagen. Er hätte dann in der Landtagswahl 2022 mit einem großen Handicap zu kämpfen, das seine Wiederwahl gefährden könnte. Selbst wenn Laschet die Bundestagswahl gewönne, könnte sein Start als Kanzler sehr turbulent werden, wenn in NRW die schwarz-gelbe Koalition platzen sollte, die NRW-CDU sich über seine Nachfolge zerstreitet und die Partei bei der NRW-Wahl 2022 einer Niederlage erleiden und wieder in der Opposition landen solle. Ob allen in der NRW-CDU und im Rest der Union diese Risiken bewusst sind?

Anders als Söder muss Laschet nicht nur sein Land in Ordnung bringen, es durch die Corona-Krise steuern und für seine Kandidatur werben. Er muss auch dafür sorgen, dass der Übergang an der Spitze der Landespartei und der Landesregierung konfliktarm abläuft und die Koalitionsmehrheit von einer Stimme stabil bleibt. Für den Fall der Fälle braucht er ein tragfähiges Nachfolgekonzept in NRW, das in der NRW-CDU und in der schwarz-gelben NRW-Koalition die meisten Ambitionen befriedigt und geordnete Übergänge gewährleistet. Wen wundert es da, dass Laschet bei dem Kraftakt, vor dem er steht, ab und an gestresst wirkt?
Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus dem Blog des Autors, mit seiner freundlichen Genehmigung.

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