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Assange und Nawalny

Gerechtigkeit und Gleichbehandlung?

Seit drei Tagen beschäftigen sich die Medien und die Politik wieder einmal intensiv mit dem russischen Oppositionellen und nationalistischen  Aktivisten Nawalny. Live-Schaltungen nach Russland,  Statements des Bundeaußenministers, ein Trupp von etwa hundert Journalistinnen und Journalisten die jegliche Corona-Regel mißachten, um den Regimegegner zu begleiten, bildeten die Bühne, auf der Nawalny erwartungsgemäß verhaftet und zu einer Haftstrafe wegen “Verstoß gegen Bewährungsauflagen” von 30 Tagen verurteilt wurde. Dieses Urteil wird übereinstimmend als Schikane bezeichnet, die dazu dient, in einem Folgeverfahren möglicherweise noch viel drastischere Strafen gegen Nawalny zu verhängen. Der windige Vorwurf gegen ihn: Verstoß gegen Bewährungsauflagen. Natürlich kündigen die Anwälte an, beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte Klage zu erheben.

Die Frage ist, wieso eigentlich Umgang und Verfahrensweise mit Julian Assange in England nicht in gleicher Weise von Medien und Statements des Bundesaußenministers oder anderer Politiker*innen begleitet werden. Julian Assange, der im Gegensatz zu Nawalny nicht politisch nationalistischen Kreisen des Ostens angehört, sondern sich als Journalist im Westen um die Aufklärung verdient gemacht hat, indem seine Website “Wikileaks” den Mord an zahlreichen Zivilisten und zwei Reuters-Journalisten durch die US-Truppen im Irak öffentlich gemacht hat, wird zynischerweise unter dem identischen und windigen Vorwurf des “Verstoßes gegen Bewährungauflagen” seit über 50 Tagen in einem britischen Hochsicherheitsgefängnis festgehalten und in einem rechtsstaatlich skandalösen Verfahren weggesperrt.

Weder nimmt der Bundesaußenminister auf einer Pressekonferenz dazu Stellung, noch bekommen die Bürgerrechtsorganisationen, die sich für seine Freilassung einsetzen, die gleiche Öffentlichkeit, wie die Unterstützer Nawalnys. Kein Interview mit seinen Anwält*innen erscheint in der “Tagesschau” oder “Heute” und niemand aus der Bundesregierung scheint bereit sein, dazu Stellung zu nehmen, dass das Verfahren gegen Assange fundamentalen Grundsätzen der Rechtsstaatlichkeit zuwider läuft. Dabei ist der Skandal insofern der größere, als er sich in der ältesten europäischen Demokratie abspielt, die bis vor kurzem noch EU-Mitglied war.

Dabei stehen auf der einen Seite – bei Nawalny – Vermutungen, berechtigte Forderungen nach Aufklärung der windigen Vorwürfe und Forderungen nach sofortiger Freilassung, weil offensichtlich ist, dass Nawalny wegen seiner oppositionellen Haltung gegenüber Putin schikaniert werden soll. Und auf der anderen Seite steht ein mehr als zweifelhaftes Verfahren gegen Julian Assange, bei dem zunächst die aus Schweden erhobenen Vergewaltigungsvorwürfe nicht nur verjährten, sondern sich auch herausstellte, dass die angeblichen Opfer selbst keine strafrechtlichen Vorwürfe wegen Vergewaltigung gegen Assange erhoben hatten. Der eigentliche Grund seiner Haft ist ein jeglichen rechtsstaatlichen Grundsätzen und internationalen Menschenrechtsgarantien widersprechendes Verfahren der US-Justiz, die Assange wegen der Aufdeckung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit und gezieltem Mord an Journalisten durch die US-Armee im Irak unter dem völlig unhaltbaren Vorwurf der Spionage und des Geheimnisverrats anklagen, ihn zu 175 Jahren Haft verurteilen und damit zum Schweigen bringen möchte.

Es handelt sich dabei um einen gravierenden Justizskandal in der freien, demokratischen Welt – Zeichen derselben Erosion westlicher Werte wie die Waffenverkäufe Donald Trumps an Saudi-Arabien oder der Überfall faschistischer Horden auf das Capitol am 6. Januar 2021. Dass die britische Justiz hierzu seit rund sieben Jahren Schützenhilfe leistet, wäre noch in den 70er Jahren undenkbar gewesen. Denn gegen Assange werden von der britischen Justiz offensichtlich konstruierte Vorwürfe erhoben und dass er sich zwischenzeitlich vor der Auslieferung an die USA in diplomatische Isolation flüchten musste, wird ihm obendrein noch negativ ausgelegt. Würde Assange mit Nawalny gleichbehandelt, gäbe es seit Wochen intensive Berichte über die Einseitigkeit der britischen Urteile in seinem Fall und über den Stand der Verfahren des von seinen Anwälten angerufenen Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Aber Assange hat ja nur die Morde von US-Truppen an Zivilpersonen öffentlich gemacht, und damit dasselbe getan, wie die Journalisten, die das Massaker von My Lai im Vietnamkrieg öffentlich gemacht haben.

Die damals öffentlich gewordenen Verbrechen der US-Armee führten zur Delegitimation des Vietnamkrieges – das, so hat die US-Militärführung danach beschlossen, dürfe nie wieder passieren. Seitdem ist eine offene und demokratische Kriegsberichterstattung auch im Westen kaum noch möglich. Rechtsstaatliche Verfahren gegen Kriegsverbrecher werden unterdrückt. Stattdessen werden diejenigen angeklagt und verfolgt, die Kriegsverbrechen und Staatsterrorismus aufdecken und öffentlich machen. Schlimmer noch: Donald Trump hat erst kürzlich bereits verurteilte Kriegsverbrecher amnestiert. Der russische Außenminister Lawrow hat sich gestern in seiner Stellungnahme zum Fall Nawalny hämisch über die “Krise des liberalistischen Systems” des Westens geäußert. Dass der Mann das tun kann, haben die USA und Großbritannien in ihrer skandalösen Doppelmoral im Fall Assange selbst zu verantworten. Despoten und dubiose “lupenreine Demokraten” können sich ob der westlichen Doppelmoral auf die Schenkel schlagen.  Niemand soll sich Illusionen machen: Die politischen Doppelbödigkeit der USA und Großbritanniens seit dem Irak-Krieg und angesichts von Gräueln im Nahen Osten hat der Glaubwürdigkeit von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit auf internationaler Ebene ebenso massiv und nachhaltig geschadet wie das Verhalten von Orban, Kaczyński und anderen unsicheren Kantonisten des Westens. Deshalb ist es ist dringend erforderlich, dass zumindest die Europäische Union diesen Entwicklungen künftig rechtsstaatlich und souverän entgegentritt.

Über Roland Appel:

Roland Appel ist Publizist und Unternehmensberater, Datenschutzbeauftragter für mittelständische Unternehmen und tätig in Forschungsprojekten. Er war stv. Bundesvorsitzender der Jungdemokraten und Bundesvorsitzender des Liberalen Hochschulverbandes, Mitglied des Bundesvorstandes der FDP bis 1982. Ab 1983 innen- und rechtspolitscher Mitarbeiter der Grünen im Bundestag. Von 1990-2000 Landtagsabgeordneter der Grünen NRW, ab 1995 deren Fraktionsvorsitzender. Seit 2019 ist er Vorsitzender der Radikaldemokratischen Stiftung, dem Netzwerk ehemaliger Jungdemokrat*innen/Junge Linke. Er arbeitet und lebt im Rheinland. Mehr über den Autor.... Sie können dem Autor auch im #Fediverse folgen unter: @rolandappel@extradienst.net

Ein Kommentar

  1. Helmut Lorscheid

    Sehr geehrte Damen und Herren,

    wann hat sich unser Bundesaußenminister denn zuletzt für die Auflösung des US-Folterlagers auf Kuba
    eingesetzt?
    Was hat sich der Bundesaußenminister für die Freilassung von Julian Assange unternommen?
    Warum hat er für die Freiheit des wegen Betrugs verurteilten russischen Geschäftsmanns Nawalny
    eingesetzt?
    Bezweifelt das Auswärtige Amt die Rechtmäßigkeit der Urteile gegen Nawalny?
    Teilt der Bundesaußenminister Nawalnys politische Äußerungen, die hierzulande eine politische
    Betätigung für diesen Herrn wohl nur in der NPD oder der AfD ermöglichen würden?

    Ich finde beide nachfolgende Texte lohnen der Beachtung.

    https://extradienst.net/2021/01/19/gerechtigkeit-und-gleichbehandlung-assange-und-nawalny/

    https://extradienst.net/2021/01/19/gerechtigkeit-und-gleichbehandlung-assange-und-nawalny/i

    Mit freundlichen Grüßen

    Helmut Lorscheid

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