Das Katastrophische grundiert die Existenz in der Region im Südosten der Türkei, mit der sich die Künstlerin Fatoş Irwen in Fotografien und Videos auseinandersetzt. Zu sehen in der Galerie Zilbermann in Berlin-Charlottenburg.
Eine Frau kauert in einem steinernen Brunnen in der Ecke eines alten Hauses. Ihr Kopf mit langen dunklen Haaren ist nach unten gebeugt. Der nackte Körper wird von einem Feigenbaum hinter ihr geschützt. Der Farbdruck „Çifte Kuyu – Doppelt gut“, auf den Besucher:innen gleich zu Beginn der Ausstellung „Sûr“ stoßen, spiegelt wie im Brennglas die Themen der Kunst von Fatoş Irwen: Der Körper der Frau, Selbstbehauptung im Rückzug auf sichere Orte, die Bedeutung ihrer Heimatstadt Diyarbakır.
Welch große Rolle für Irwen Heimat spielt, signalisiert schon der Ausstellungstitel „Sûr“. Einerseits bezieht er sich auf den jahrhundertealten historischen Bezirk der Altstadt von Diyarbakır, der bei einem Einsatz des türkischen Militärs 2016 gegen kurdische Rebellen nahezu dem Erdboden gleichgemacht wurde.
Sûr bezeichnet in der islamischen Tradition aber auch die Trompete, mit der der Engel Israfil zum Jüngsten Gericht blasen wird und die vierzig Jahre später die neuerliche Auferstehung ankündigt. Ende und neuer Anfang – zwischen diesen Polen bewegt sich die in Diyarbakır geborene Künstlerin in ihren Werken.
Die sind dabei ohne Zweifel politisch aufgeladen. Wie könnte es anders sein bei einer Künstlerin, die zweimal im Gefängnis saß. Wegen ihres Hungerstreiks gegen die Feldzüge des türkischen Militärs gegen kurdische Rebellen verbrachte sie 2012 und wegen „Widerstands gegen die Polizei“ ab 2017 gut drei Jahre hinter Gittern. Im Gespräch verweist sie aber auch auf Krieg, Hunger und Umweltzerstörung in der ganzen Welt. „Ich glaube, als Künstler, als Frau mit einer politischen Haltung zu leben, ist eine ethische und moralische Verantwortung.“ Anders jedoch als die aktivistisch geprägte Kunst der ebenfalls in Diyarbakır geborenen Zehra Doğan markieren Irwens Werke den poetischen (Gegen-)Pol der politischen Ästhetik im kurdischen Südosten der Türkei.
Immer spürt sie das Politische auf, in der Geografie und in kulturellen Wurzeln
Ob es die Frau ist, die in dem Video „Su Düşü – Dream of Water“ über einer Quelle sitzt und ihre Erfahrungen mit einer patriarchalen Lebenswelt dem murmelnden Wasser anvertraut. Ob es die abstrahierenden Tuschezeichnungen der berühmten Hevsel-Gärten der Altstadt von Diyarbakır sind, die sie während ihres Gefängnisaufenthaltes fertigte. Oder ob es die Erde als Quelle der Arbeit ist.
Immer spürt Irwen das Politische in ihrem Leben auf, in ihrer Geografie und in ihren kulturellen Wurzeln. „Zaman Hasadı – Erntezeit“ heißt ein Werk, bei der sie einen Hügel heimatlicher Erde mit Baumwollpflanzen bestückt hat, deren Fruchtkapseln sie mit ihren Haaren und der von Frauen, die sie im Gefängnis kennenlernte, gefüllt hat.
Mit der Ausstellung unterstreicht die Galerie Zilberman einmal mehr ihre Rolle als Brücke zwischen der Istanbuler und Berliner Kunstszene. Was an der Schau beeindruckt, ist, wie Irwen all diese (Gewalt-)Erfahrungen surreal verschlüsselt.
Etwa in der gerade entstandenen Videoarbeit „Tigris“: Pflanzen, Tiere und seltsame graue Fabelwesen schweben auf dem Bildschirm im DIN-A5-Format durch die Luft, von einem baumelt eine goldene Glocke herab. Das Leid, das diese uralte Landschaft seit Jahrhunderten gesehen hat, deutet Irwen in ihrer Arbeit nur symbolisch an. Auf einem steinernen Podest liegt ein Augapfel, aus dessen Iris langsam, aber stetig Blut in die darunterliegenden Gärten rinnt. In dem Video „Sûr Fragments“ läuft die Künstlerin barfuß und in einem bestickten Kleid durch eine enge Gasse Diyarbakırs und zieht eine Leine mit Büchern hinter sich her – Symbol der Misshandlungen, Deportationen und Verluste, die die Stadt erlitten hat. In einer Szene zerbirst eine Wassermelone in tausend Stücke – das Symbol der Stadt, das sich auch in ihrem Wappen findet.
Die Katastrophe, die den Südosten der Türkei gerade verheerte und auch Irwens Heimatstadt getroffen hat, ist in den Bildern dieser Ausstellung natürlich nicht zu sehen. Doch jede Arbeit, sei sie auch noch so „schön“, grundiert das Katastrophische als Grundelement der Existenz in dieser Region.
Um dieses immer wieder neu über die Stadt hereinbrechende Leid wenigstens etwas zu mindern, wird die Galerie den Erlös aus dem Verkauf einer Edition von Arbeiten von Irwen an das Merkezkac art collective in der kurdischen Hauptstadt spenden. Das ist eine kleine Solidaritätsaktion, aber dennoch wichtig. Sie mag die Hoffnung beseelen, dass auch diesem Zusammen- irgendwann ein neuer Aufbruch folgen wird.
Fatoş Irwen: „Sûr“, bis 15. April in der Galerie Zilberman, Goethestraße 82 in Berlin-Charlottenburg. Dieser Beitrag ist eine Übernahme von taz.de, mit freundlicher Genehmigung von Autor und Verlag.
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