Gestern habe ich hier das ganz, ganz kleine Karo der Ampelkoalition beleuchtet. Zweck der Analyse, welche machtpolitischen Optionen die Grünen innerhalb der Regierung haben, war es, die Perspektiven aufzuzeigen, die bestehen, wenn sich die Betrachter*in allein auf den parlamentarischen Raum beschränkt. Diese Betrachtungsweise entspricht jedoch nicht den Machtverhältnissen und den Einflüssen der gesellschaftlichen Akteure in unserer Republik. Wir leben in der Klimakrise und in einem Krieg in Europa.
Diese Lage nutzen Energiekonzerne, Rüstungsfirmen und Lebensmittelkonzerne derzeit zu einer beispiellosen Selbstbereicherung. Mittel hierzu sind eine willkürliche Teuerung – keine Inflation – und die Bereicherung an Steuergeldern und Subventionen. Vom “Tankrabatt” über die Strompreisbremse bis zur E-Mobilitätsprämie. Die Preise an der Strombörse haben sich längst beruhigt, trotzdem zocken Energiekonzerne ab. Und die FDP spielt die Rolle, die sie immer spielt, wenn es um gesellschaftliche Umverteilung geht: 100 Milliarden Schulden für die Bundeswehr ja, zur Bekämpfung von Kinderarmut fehlt das Geld, für den Austausch von Heizungen auch, Steuererhöhungen für Reiche gehen gar nicht und die Schuldenbremse muss eingehalten werden. Dass dies alles an die Rolle der FDP in den 70er Jahren in der sozialliberalen Koalition erinnert, habe ich gestern hier ausführlich beschrieben. Die Grünen wurden von FDP und SPD mithilfe der “veröffentlichten Meinung” der Hauptstadtpresse in die Ecke manövriert und werden nun zum Teil heuchlerisch bemitleidet.
Grüner Basisfrust ist keine Machtoption
Ich habe gestern in einem linksgrünen Forum, in dem ernsthaft ein Sonderparteitag gefordert und vorbereitet wird, die ketzerische Frage gestellt, wie denn das Ziel dieses Parteitags laute und an wen sich die Forderung richte. Bisher bekam ich nur Antworten, mit denen sich die Grünen an ihre Verantwortlichen in Regierung und Fraktionsspitze richten und glauben, das würde die FDP oder Olaf Scholz in irgendeiner Weise überzeugen. (Das Interview des Linken-Vorsitzenden im “Spiegel” dieser Woche enthält den gleichen Denkfehler) Das zeigt: die Grüne Basis, aber auch die Grüne Parteispitze haben verlernt, was Machtpolitik bedeutet. Gesellschaftliche Machtpolitik bedeutet, dass es den Grünen gelänge, gesellschaftliche Bündnispartner zur Stärkung ihrer Positionen zu gewinnen. Jede Partei im Parlament und in der Regierung ist nur so stark, wie die Bewegung, die ihr Druck macht und sie vorantreibt. Fridays for Future haben in den letzten beiden Jahren maximalen Druck auf die gesamte Gesellschaft ausgeübt. DAS hat die Grünen und ihre Machtposition gestärkt. Das, was die FDP seit Monaten veranstaltet, und was von bürgerlichen Medien flankiert wird, kann nicht durch die Fixierung auf parlamentarische Rollen bekämpft werden.
Neue Rolle für den Grünen Parteivorstand
Ich schätze Omid Nouripour und Ricarda Lang, sie haben ihre Stärken. Was sie aber derzeit nicht im Blick haben, ist die gesellschaftliche, außerparlamentarische Rolle, die die Grüne Partei zu spielen hat. Sie ist der einzige Hebel, um in einer in Regierungen zwangsläufigen Politik der Widersprüche und Ursachen der Kompromisse zu erklären und Bündnisse gesellschaftlicher Gegenmacht zu organisieren. Im Klartext: über die Beschlüsse eines Grünen Sonderparteitags öffnet Christian Lindner eine Flasche Champagner und lacht sich einen ab. Bei 500.000 auf der Klimaschutzdemonstration im Berlin und regelmäßig 2 Mio. “Fridays, Omas und Scientists for Future” im ganzen Bundesgebiet wird er nervös.
Der Grüne Bundesvorstand scheint das vergessen zu haben. Es gab einmal eine Zeit, in der diese Arbeitsteilung zwischen Regierung und Fraktion einerseits und der Partei und der außerparlamentarischen Kräfte sinnvoll gebündelt wurden. Anti-AKW und Volkszählungsboykott. Dieser Bereich wird von der Parteispitze heute sträflich vernachlässigt. Es ist aber im existenziellen Interesse der Grünen Regierungsmitglieder, dass diese mit FFF, mit anderen Klimagruppen und Organisationen Kontakt hält und außerparlamentarische Gegenmacht mobilisiert.
Es gibt viel zu tun
Bis zum Herbst 2023 gibt es viel zu organisieren: Gewerkschaften, FFF, Klimaschutzinstitute, Verbraucherschutzorganisationen, Sozialverbände – alle, die von Klimawandel, Krieg und Sozialabbau betroffen sind, von der Ampel enttäuscht wurden, haben Grund genug, gegen die Rolle, die die FDP derzeit spielt, gesellschaftlichen Widerstand und Druck zu mobilisieren. Dazu bedarf es keines Sonderparteitages, sondern Grüner Bündnisgespräche auf allen Ebenen. Auf Bundesebene, vor allem aber in Landes- Bezirks- und Kreisverbänden, auf kommunaler Ebene, wo Mensch sich kennt. Vielleicht bedarf es eines bundesweiten Ratschlags von Bürgerinitiativen – es geht um Gegenmacht, wie sie seit der Anti-AKW und Friedensbewegung nicht mehr aufgebaut wurde. Es geht nicht um die Rettung der Grünen: Es geht um die Rettung der Klimapolitik und des sozialen Friedens! Und wenn es die Grünen nicht tun, dann müssen wir es tun, die Bürgerrechtsorganisationen, Umweltgruppen, FFF, grüne Kreisverbände, Kommunen, CO2-neutralen Wohngebiete und viele kleine Gruppen und Initiativen, die sich für Basisarbeit nicht zu schade sind. Nur das wird der Ampel zeigen, wo es langgeht. Und nur das begründet eine verbesserte gesellschaftliche Machtposition der Grünen in der Regierung.
Zeit für einen neuen Marsch durch die Institutionen ?
1968 rief Rudi Dutschke die linken Student*innen zum “Marsch durch die Institutionen” auf. Die Reaktion darauf waren die “Doppelstrategie” der Jusos, die “Zwei-Wege Strategie” der Jungdemokraten und die “Standbein-Spielbein” Strategie der frühen Grünen, die die Koopaeration zwischen Bewegung und Parteien beschreiben sollten. Gerhart Baum und Günter Verheugen beschrieben im Buch “100 Jahre Jungdemokraten”, wie sie mit Hilfe der APO 1967-70 die Jungdemokraten und die FDP politisch gekippt haben. Mit weniger als bundesweit etwa zweitausend jungen Menschen gelang das damals, die Mehrheiten in der FDP zu verändern und sie von einer nationalliberalen, revisionistischen Blockpartei (Mende, Zoglmann) an der Seite der CDU zu einer linksliberalen Reformpartei umzugestalten.
Das Problem FDP elegant erledigen? (Vorsicht Satire)
Man stelle sich vor, einige tausend Aktivist*innen von FFF, Omas und Scientists for Future träten 2023 in die FDP ein, um sie zu verändern und kippten dort die Mehrheiten, wählten andere Vorstände und schrieben andere Programme. Viele alte, die ich kenne und die nichts mehr werden wollen, wären dabei. Und alte Jungdemokraten, die in innerer Emigration vor sich hindämmern, könnten reanimiert werden. Die Listen für die Bundestagswahl sähen völlig anders aus. Carla Reemtsma auf Platz eins der Landesliste Berlin der ökologisch geläuterten FDP: Das Wär’s doch! Der Spuk von Lindner und Wissing wäre innerhalb von zwei Jahren beendet. Auch das ist “Zwei Wege Strategie” und wäre eine echte Machtoption angesichts der isolierten, verklemmten und weitgehend im konservativen Lager gefangenen FDP. Agedum! (Lat. Packen wirs an)
Dein Traum von “Eleganz” im letzten Absatz gefährdet massiv Deine Satisfaktionsfähigkeit. SPD und Grüne könnten das, was Du in Bezug auf die FDP träumst, nicht minder vertragen. Und was machen eigentlich die engagierten und klügeren Teile der “Die Linke”, wenn sie sich zuende zerlegt haben? Allein, was die seit 2009 im Saarland “geschafft” haben …
https://www.wahlrecht.de/umfragen/landtage/saarland.htm
Okay, ist kleiner als Köln …
Vorsicht mit dem Saarland-Vergleich: Da haben sich lange vor den Linken erst die Grünen und dann die FDP selbst zerlegt. Bei der SPD hält auch nur eine Person noch die Fahne aufrecht, und in der CDU ist das gesamte Führungspersonal verbrannt. Von einer Parteienlandschaft kann dort nicht mehr gesprochen werden, vielleicht auch ein winziger Vorgeschmack auf die kommenden Entwicklungen in den ‘großen’ Ländern wie NRW. Kleiner als Köln ja, aber als Ölteppich, Waldbrand und in anderen Katastrophen immer ein Größenvergleich.
😉
Lieber Martin, bei so einer Aktion darf man sich nicht verzetteln. Die SPD hatte 2022 rund 380.000 Mitglieder, die Grünen rund 126.500 – die FDP dagegen nur rund 76.000 – da ist die Frage der Effizienz des Personaleinsatzes, um Mehrheiten zu verändern, schnell beantwortet. Zumal die üppigen Finanzen und Immobilien der FDP aus der Erbschaft der “Blockflöte” LDPD geradezu unermessliche Finanzmittel für Parteiarbeit bieten – selbst wenn mal wieder die 5% Hürde droht. Die “Linke” brings derzeit nach ursprünglich über 250.000 gerademal noch 54.000 Mitglieder auf die Waage,. Wieviele davon vernünftig sind, wage ich nicht zu beurteilen, aber sie wären herzlich willkommen.
Das Problem ist nicht quantitativ, sondern qualitativ. Anders als in den 70ern kommt die übergrosse Mehrheit zu dem Schluss, dass sich das mit den Parteien für sie persönlich nicht (mehr) lohnt. Die Parteien degenerieren dadurch immer mehr zu gesellschaftlich abgekoppelten “Profi”(im Sinne Lindners!)-Apparaten. Die Coronapandemie hat das, wie so vieles, beschleunigt und verstärkt. Die Zoom-“Kommunikation” führt zu weiterer Beseitigung von innerparteilicher Demokratie und minimiert Beeinflussungsoptionen ihrer eigenen Basis. Die “Profis” werden dümmer – und merken das natürlich gar nicht.
Nun ja. Der sinnvolle Gedanke, den außerparlamentarischen Protest zu organisieren, hat in den 80er-Jahren funktioniert, als die Grünen fast überall als Opposition in den Parlamenten saßen. 1998 – 2005 hat es nicht funktioniert, sondern der grüne Bundesvorstand sah seine Hauptaufgabe darin, die Arbeit der Grünen in Regierung und Parlament gegenüber der Parteibasis abzusichern. Das ist heute nicht anders und bloß aufgrund eines Appells wird sich das auch nicht ändern.