Untersuchungsausschuss zur Landlosenbewegung MST – Agrobusiness und Großgrundbesitz in Brasilien lassen im Parlament ihre Muskeln spielen

Vier Jahre der rechtsextremen Bolsonaro-Regierung haben in Brasilien in den ländlichen Regionen deutliche Spuren hinterlassen. Die Landkonzentration und mithin die Landkonflikte haben zugenommen, während die Landlosenbewegung MST aus Befürchtungen, unter Bolsonaro noch mehr kriminalisiert zu werden, sich weniger auf neue Landbesetzungen als auf die Sicherung der bestehenden MST-Ansiedlungen konzentriert hat. Mit der Wahl Lulas blicken alle gespannt auf die Frage, ob die Agrarreform ebenso wie Landbesetzungen wieder an Fahrt aufnehmen und ob sich das mächtige Agrobusiness dies gefallen lassen würde. Der politische Arm des Agrobusiness hat derweil eine parlamentarische Untersuchungskommission eingesetzt, um herauszufinden, was die Landlosenbewegung MST tut, was „ihr eigentlicher Zweck“ sei und wer deren Arbeit finanziert.

Keine Frage, Brasiliens Nationalkongress ist der rechteste seit Jahrzehnten. Die größte und mächtigste parteiübergreifende Fraktion im Nationalkongress ist die der sogenannten „Ruralistas“ der FPA (Frente Parlamentar da Agropecuária). Diese FPA stellt 300 der 513 Abgeordneten im brasilianischen Abgeordnetenhaus, und in der zweiten Kammer des Nationalkongresses, dem Senat, kommt die FPA nach eigenen Angaben auf 47 der 81 Senator*innen. Mit dieser satten Mehrheit gelingt es dem verlängerten politischen Arm des brasilianischen Agrobusiness, die Regierung Lula mächtig unter Druck zu setzen.

So geschehen im Mai dieses Jahres, als diese Kongressmehrheit die parlamentarische Untersuchungskommission (CPI) zur Landlosenbewegung MST für die nächsten 120 Tage einsetzte. In dieser CPI MST soll es um drei Fragen gehen, so die Befürworter*innen: Was tut die Landlosenbewegung MST, was ist „ihr eigentlicher Zweck“ und wer finanziert deren Arbeit. Als Berichterstatter ernannten die Ruralista-Abgeordneten keinen Unbekannten: den vormaligen Umweltminister Bolsonaros, den rechtsextremen Ricardo Salles, der in seiner Amtszeit eher für „Flexibilisierung“ der Umweltgesetze bekannt wurde und dessen Forderung in einem Video, „Viehherden in den Amazonas zu treiben“, in Brasilien zu einem geflügelten Wort für die Umweltpolitik der Bolsonaro-Regierung wurde. Im Juni 2021 war Ricardo Salles vorzeitig vom Amt zurückgetreten, weil kurz zuvor bekannt geworden war, dass die Bundespolizei gegen ihn im Zusammenhang mit der illegalen Tropenholzmafia ermittelte. Dieser Salles ist nun Abgeordneter im Nationalkongress und erklärte als Berichterstatter der CPI MST, dass „es in Brasilien Gesetze gibt, die das Privateigentum schützen.“ Und weiter: „Alle kriminellen Handlungen und jede Missachtung des Privateigentums werden von dieser parlamentarischen Untersuchungskommission beim Namen genannt werden“, so Salles gegenüber Medien.

Für die Landlosenbewegung MST ist das Ziel dieser Untersuchungskommission offensichtlich: Die MST soll als Organisation diffamiert werden, das gesellschaftliche Narrativ soll sich wieder mehrheitlich gegen die Landlosen richten und die MST-Aktivist*innen sollen kriminalisiert werden. „Diese CPI MST ist ein koordinierter Angriff auf die MST“, sagt Ayala Ferreira von der Nationaldirektion der Landlosenbewegung MST. „Sehr wahrscheinlich wird die CPI MST versuchen, uns als terroristisch hinzustellen. Und wie nebenbei werden sie eine Flexibilisierung der Umweltgesetzgebung und eine weitere Liberalisierung der Agrargifte empfehlen und all dies als großes Blendwerk nutzen, damit nur niemand auf die Idee kommt, das dahinter stehende Latifundienmodell zu erkennen“, so Ayala auf einer der regelmäßig mit internationalistischen Aktivist*innen stattfindenden Austauschrunden Mitte Juni dieses Jahres. Ayala Ferreira geht zudem davon aus, dass die im Mai erfolgte Einsetzung der CPI MST nicht zufällig erfolgte. „Diese CPI MST ist auch als reaktionäre Antwort auf die CPI zu den Putschversuchen der extremen Rechten vom 8. Januar dieses Jahres zu sehen“, so Ayala Ferreira. Damals waren Tausende fanatische Bolsonaristas ins Abgeordnetenhaus, den Obersten Gerichtshof und den Präsidentenpalast gestürmt und haben dort teils erhebliche Zerstörungen angerichtet, alles unter den Augen der viel zu spät eingreifenden Sicherheitskräfte. Die aktuelle CPI zum Putschversuch vom 8. Januar läuft noch, ebenso wie die Gerichtsprozesse gegen die Putschist*innen. „Und die jetzige Einberufung der CPI MST soll von der Frage ablenken, welche Rolle das Agrobusiness bei dem Putschversuch vom Januar spielte“, meint Ayala Ferreira.

Nach missratenem Putschversuch: Agrarreform kriminalisieren

Auch der Kongressabgeordnete Nilto Tatto von der Arbeiter*innenpartei PT ist sich sicher, dass die Arbeit der CPI MST, der er als Abgeordneter angehört, aber dort zur linken Minderheit zählt, dazu dienen soll, die Landlosenbewegung MST und die Befürworter*innen der Agrarreform im Land zu kriminalisieren. Die CPI MST mache „eine Menge Spektakel, um Material für Streit in der Gesellschaft zu produzieren. Es ist offensichtlich eine CPI, um die Regierung von Präsident Lula anzugreifen, insbesondere das, wozu sich der Präsident selbst im Wahlkampf verpflichtet hat, nämlich die Wiederaufnahme der Agrarreform, die Unterstützung der bäuerlichen Familienbetriebe und die Demarkierung von indigenem und Quilombola-Land“, so der Abgeordnete Nilto Tatto anlässlich eines Lokaltermins der Mitglieder der CPI MST in der Region von Pontal do Paranapanema im Bundesstaat São Paulo.

Tatto kritisierte zudem das eigentliche Interesse der „Ruralistas“ wie Salles, nämlich die Agrarreform à la Bolsonaro fortzuführen. Denn unter Bolsonaro war der bisherige Ansatz der Agrarreform ersetzt worden. Statt kollektive Landtitel an die Ansiedlungen entweder als temporär befristete Nutzungskonzession wie beim sogenannten CCU (contrato de concessão de uso) oder als sogenannte direkte Nutzungskonzession CDRU (concessão de direito real de uso) zu vergeben, bei denen der Staat als Eigentümer des Landes bestehen bleibt, hatte sich die Bolsonaro-Regierung für den direkten Landtitelbesitz TD (título de domínio) entschieden. Dieser erfolgt individuell, und das Stück Land wird direkt an den Begünstigten übertragen, welches dieser nach einer Frist von zehn Jahren frei veräußern darf.

Pontal do Paranapanema im Bundesstaat São Paulo, wohin die CPI-Mitglieder zum Lokaltermin fuhren, ist ein Paradebeispiel dieser privatisierten Agrarreform à la Bolsonaro. Was dort in Pontal gemacht wurde, ist im Interesse von Salles und den Farmern in São Paulo, um die Vergabe von öffentlichem Land zu beschleunigen, basierend auf dem Gesetz, das letztes Jahr verabschiedet wurde. Da vor dem Obersten Gerichtshof ein Verfahren zur Feststellung der Verfassungswidrigkeit anhängig ist, wollen sie die Titulierung dieser Ländereien beschleunigen.

Die Region Pontal do Paranapanema ist genau der Ort, an dem der vormalige Bolsonaro-Minister für Infrastruktur und nun Gouverneur von São Paulo, Tarcísio de Freitas, den Legalisierungsprozess der Begünstigten der Bolsonaro-Agrarreform mit Rabatten von bis zu 90 Prozent beschleunigt hat. Die Farmer*innen des Agrobusiness können sich also, so Medienberichte, über Grundstücke im Wert von 64 Millionen Reais (umgerechnet derzeit 12 Millionen Euro) mit einer Gesamtfläche von 3900 Hektar freuen.

Diese Landtitulierung an Private wurde vom Parlament von São Paulo vergangenes Jahr verabschiedet, und noch während der Regierungszeit des vorherigen Gouverneurs, Rodrigo Garcia, wurde der Weg für die Umsetzung freigemacht. Mit der Unterstützung der Agrarindustrie hat der jetzige Gouverneur, Tarcísio Freitas, begonnen, die Verfahren in die Praxis umzusetzen, „bevor das Gesetz fällt“, ist sich der Abgeordnete Tatto sicher. Die Arbeiterpartei PT warnt davor, dass dieses Gesetz verfassungswidrig ist, und verweist auf ihre Verfassungsklage beim Obersten Gerichtshof STF, die sie eingereicht hat, um diese Art der Agrarreform als Landübertragung an Private zu stoppen. Die MST ist ebenfalls entschieden gegen diese Art von Landnahme, das neue kollektive MST-Ansiedlungen unmöglich macht. Auch Brasiliens neuer Minister für Agrarentwicklung, Paulo Teixeira von der Arbeiter*innenpartei PT, sieht die Gesetzesakte zur privatisierten Agrarreform, wie sie unter Bolsonaro erlassen wurde, als nicht verfassungsgemäß an. „Diese Landtitel sind das Papier nicht wert, auf denen sie stehen“, so Minister Paulo Teixeira bereits im Februar gegenüber Medien. So setzt Teixeira in dieser Frage des Umgangs mit den privatisierten Landtiteln der Bolsonaro-Regierungszeit auf den Obersten Gerichtshof.

“Gutes Agrobusiness” vs. “schlechtes Agrobusiness”?

Bleibt die Frage, wie die Regierung Lula selbst mit der Frage der Agrarreform umgehen wird. Lula seinerseits deutete in wiederholten Reden an, es gehe darum, das „gute Agrobusiness“ zu gewinnen und dadurch das „schlechte Agrobusiness“ auszugrenzen. Und in Fragen der Agrarreform sagte Lula unlängst, es sei nicht mehr nötig, „in Land einzudringen“ oder „Lärm“ und „Krieg“ zu machen. Lula zufolge werde die Regierung die Ansiedlung von Landlosen „mit großer Ruhe“ vorantreiben. Lula erklärte dazu, er habe Minister Teixeira um eine Bestandsaufnahme aller brachliegenden Flächen im Land gebeten, die für eine Agrarreform in Frage kämen. „Wenn die [Agrarreformbehörde] INCRA die unproduktiven Grundstücke erfasst, dann teilt sie der Regierung mit, welche unproduktiven Grundstücke es in jedem brasilianischen Bundesstaat gibt, und von dort aus werden wir über die Besetzung dieser Grundstücke diskutieren. Es ist ganz einfach. Es muss keinen Lärm und keinen Krieg geben. Was wir brauchen, ist Kompetenz und die Fähigkeit, miteinander zu reden“, erklärte Lula.

Bleibt die Frage, ob sich das „schlechte Agrobusiness“ davon so leicht und vor allem widerstandslos überzeugen lässt. Das darf bezweifelt werden.

Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus ila 467 Juli/Aug. 2023, hrsg. und mit freundlicher Genehmigung von der Informationsstelle Lateinamerika in Bonn. Zwischenüberschriften wurden nachträglich eingefügt.

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