Auf Kriegsfuß mit zivilem Ungehorsam
Im Schulhalbjahr 1969/70 war es, als ich zum ersten mal mit der Einstellung Baden-Württembergischer Polizeikräfte zur Demonstrationsfreiheit konfrontiert wurde. Nachdem ich mich gemeinsam mit meinen Mitschülern am Esslinger Bahnhof vor Busse und die einzige museumsreife Straßenbahn gesetzt hatte, um im Rahmen der „Roter Punkt“ Aktion gegen Fahrpreiserhöhungen von saftigen 25% zu protestieren, beschloss die Staatsmacht irgendwann, dem Treiben ein gewaltsames Ende zu setzen. An einem kalten Nachmittag räumten etwa vierzig Polizisten mit Schlagstöcken und Handschuhen „bewaffnet“ etwa dreißig Jugendliche, um dem „Filderkraut Express“ wieder freie Bahn zu schaffen. Blind wurde da zugeschlagen einer Mitschülerin mehrfach in den Unterleib getreten, nicht ohne dabei auch noch von Passanten beifällig mit einem: „Zeiget’s denne noh, des senn eh alles Kommunischde!“ angefeuert zu werden.
Die Festgenommenen wurden in die viel zu kleine Wache am Nordrand der Esslinger Altstadt verbracht und dort entwürdigend stundenlang festgehalten ohne auf die Toilette zu dürfen geschweige denn versorgt zu werden. Die Eltern dieser Schüler, zumeist selbst gegen die Fahrpreise aufgebracht und mit rotem Punkt hinter der Windschutzscheibe aktiv beteiligt – das bedeutete „ich nehme kostenlos Tramper mit, die Bus und Bahn boykottieren“, stellten ebenso empört die Kriminalisierung ihrer Sprösslinge fest, wie die Eltern der Schülerdemo vom 30.9.2010. Während die damaligen Demonstranten – die höchstrichterlichen Urteile über Nötigung waren noch nicht gefällt, Sitzblockaden noch nicht strafbar – wegen „Widerstands gegen die Staatsgewalt“ zu geringen Strafen oder Sozialdiensten verurteilt wurden, blieben die prügelnden und tretenden Polizisten unbehelligt. Dass die ganze Aktion den Widerstand nur noch angefacht hatte und die Fahrpreiserhöhungen teilweise zurückgenommen werden mussten, war ein klarer Erfolg des Protests.
Man könnte also meinen, dass ziviler Ungehorsam auch im Raum Stuttgart nicht neu ist. Dass die Staatsmacht im Ländle allerdings unbeirrbar ist, wurden Fahrpreiserhöhungen fortan in die Schul- und Semesterferien verlegt und zur Beruhigung die Zuschüsse zu den Schülermonatskarten leicht erhöht. Das ist die Beachtung des Volkswillens auf schwäbisch.
So ähnlich scheint die Riege um Ministerpräsident Stefan Mappus gedacht zu haben, mit den Protesten gegen Stuttgart 21 umgehen zu können. Willkommen in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts! Man wundert sich schon, wie die Zeit stillgestanden ist im Ländle, vor allem: Zumindest Wolfgang Drexler, inzwischen zurückgetretener Sprecher des Stuttgart 21 Projektes hätte es besser wissen können – er war nämlich 1969 als Juso bei uns mit dabei.
Die Schärfe der bürgerlichen Empörung
Wie aber konnte um Stuttgart 21 eine bisher nicht gekannte Breite der Protests aus der Mitte der Gesellschaft entstehen, wo es doch weder um Existenzfragen wie ein Atommülllager, ein AKW oder um Mittelstreckenraketen geht, noch eine Autobahn oder Startbahn, wo man Proteste von Lärmschutzgegnern und Naturschützern kennt? Woher kommt vor allem die Schärfe des Tons, mit denen im Herbst 2010 fast alle verantwortlichen Politiker als „Lügner und Betrüger“ tituliert werden? Auf den ersten Blick liegt die größte Umweltgefahr neben dem Fällen etlicher alter Platanen im möglichen Aufquellen der im Stuttgarter Untergrund vorhandenen Mineralsubstanzen bei der Berührung mit Grundwasser – der Grund übrigens, warum bereits vor fünfzig Jahren entschieden wurde, den nahe am Bahnhof gelegenen Wagenburg – Straßentunnel niemals auf vier Spuren fertig zu bauen. Bringt das zwischenzeitlich täglich Tausende derart vehement motiviert auf die Straße?
Nun mangelt es Stuttgart außer Fernsehturm und Mercedesstern an Wahrzeichen- kein Dom ordnet die Altstadt, kein Brandenburger Tor kann durchschritten werden, ein gerade noch schiffbarer Fluss blubbert trüb zwischen Stahl und Beton, das Rathaus ist hässlich und das Schloss steht an einer Stadtautobahn, aber dass der Abriss des architektonisch eher bescheidenen Stuttgarter Bahnhofs so ungeahnte Emotionen mobilisiert, ist unwahrscheinlich, wahrscheinlicher ist als Motiv der Kampf um die kleine grüne Oase des Parks mitten in einer sonst stadtplanerisch brachial von vier- und sechsspurigen Trassen tranchierten Innenstadt – aber erklärt das die Schärfe der Kritik und zum Teil tiefe Enttäuschung des bürgerlichen Potests?
Sind es etwa Staatsfeindlichkeit oder grundsätzliche Kritik der extremistischen Klientel? Wer beobachtet hat, dass bei Demonstrationen, die sich in Nebenstraßen zur Schossplatzwiese bewegten, der Demonstrationszug stoppte, als die natürlich nicht ausgeschalteten Ampeln auf dem Marschweg auf rot sprangen, der wird zweifeln, dass es den Protesten darum geht, sich grundsätzlich in Opposition zu üben und willkürlich über demokratisch zustande gekommenen Pläne und Genehmigungen hinweg zu setzen. Wer etwa die erste der größeren Demonstrationen am 10. September mit etwa 70.000 friedlichen Teilnehmerinnen und Teilnehmern beobachten konnte, den musste das bunte Spektrum von Schülern, Hausfrauen, Handwerkern, vom Businessmenschen im Nadelstreifen bis zu Kniebundhosenträgern des schwäbischen Albvereins wirklich erstaunen. Nein, wenn prominente Unternehmerinnen und CDU-Mitglieder mit dem Porsche zur Demo fahren, dann muss was anderes anstehen, als Klassenkampf.
Kein regionales Phänomen
Hört man genauer hin bei den Argumenten der Stuttgart 21 – Gegner, beschränken sich diese weder auf eine kommunale Sicht der Dinge, noch handeln sie nach dem Sankt Floriansprinzip, wie es ihnen manche Befürwortern zuschreiben wollen. Auf Veranstaltungen, öffentlichen Diskussionen ist zu hören, dass den Gegnern an einem intelligenten Schienenausbau und einer Verbesserung des regionalen und überregionalen Verkehrsnetzes gelegen ist. Wenn sie etwa fordern, mehr Geld für einen umweltfreundlichen Ausbau der Rheinstrecke zwischen Mannheim und Basel einzusetzen, statt eine Billigtrasse ohne Lärmschutz auf Kosten der Anwohner zu realisieren, denken sie nicht nur ökologisch, sondern auch europäisch. Deshalb sind die Proteste auch kein rein regionales Phänomen, mit dem man etwa durch die Mobilisierung des Umlandes schon fertig werden kann, wie CDU und Interessenverbände von Stuttgart bis Ulm derzeit glauben. Indem die Befürworter ihre Gefolgschaft durch IHK – geförderte „Pro Stuttgart 21“ Läufe über die Protestwiese der Baumschützer oder kindische Aktionen wie die Bezahlung von 20 Cent pro abgegnibbeltem „Stuttgart 21 Nein“ Aufkleber durch die CDU-Fraktion im Stuttgarter Rat mobilisieren, tragen sie eher zur Eskalation, als zur Entspannung der Situation bei – stellen sie doch den eher provinziellen Horizont ihrer Initiatoren unter Beweis. Spalten statt versöhnen, indem man die Kontrahenten aufeinander loslässt, ist Zeichen einer tief sitzende Demokratieunfähigkeit der (noch) das Land regierenden CDU und ihrem schon längst nicht mehr liberalen Anhängsel FDP.
Heimliches Schleichen zum Projekt gescheitert
Den Befürwortern hilft es derzeit wenig, immer wieder auf die vielen rechtmäßig verlaufenen Verfahren und Planungen seit 1994 zu verweisen, auf Parlamentsbeschlüsse und Regierungsentscheidungen und dass man bei der Landtagswahl quasi mit Schwarz – Gelb auch über Stuttgart 21 abgestimmt habe. Diese Argumentation empfinden viele Menschen deshalb heute als unredlich, weil sich im Planungsprozess über 15 Jahre immer wieder Verzögerungen und neue Tatbestände ergeben haben, Gelder nicht mehr zur Verfügung standen, dann doch wieder eingestellt wurden – Fakt ist, dass das Thema nicht mit der notwendigen Sensibilität behandelt, sondern als Routinemaßnahme unter vielen anderen dargestellt wurde. Lieber der Ball flach halten, war die Strategie der Ministerpräsidenten Teufel und Oettinger, bis Stefan Mappus in diesem Jahr behauptete, dass es nun um ein Endspiel gehe, bei dem sozusagen dem VfB Stuttgart der Abstieg droht. Dies hat sich am Ende nicht als kleiner Kommunikationsfehler, sondern als politischer SuperGAU herausgestellt. Wer heutzutage versucht, ein angeblich existenzielles Jahrhundertprojekt mit Leisetreterei zur Baureife zu bringen, darf sich nicht wundern, wenn spätestens die Bagger auf massiven Widerstand stoßen! Und auch böse Fouls wie der von Stuttgarter OB Schuster zunächst im Wahlkampf versprochene, nach seiner Wiederwahl aber schnell vergessene Bürgerentscheid haben das Ihrige getan, um den Konflikt anzuheizen.
In Douglas Adams’ „Per Anhalter durchs All“ wollen Außerirdische die Erde sprengen und begegnen den Protesten der Menschheit mit dem zynischen Hinweis, die Pläne hätten doch zehn Jahre für Einsprüche auf Alpha Centauri ausgelegen, man können nichts dafür, wenn sich die Menschen nicht um ihre ureigensten Angelegenheiten kümmerten…. Nicht anders als wie in dieser Satire fühlen sich derzeit viele Stuttgarter. Sie wurden zunächst unzureichend informiert um dann zu hören, dass jede Diskussion nun zu spät sei und etwas zu ändern, ginge schon gar nicht mehr. Dennoch hat nicht etwa das politische System versagt, sondern einzig und allein die regierende politische Klasse und dies hält ihnen Heiner Geissler zu Recht vor. Wenn als Konsequenz daraus SPD und Grüne fordern, diesen Versagern die Entscheidung aus der Hand zu nehmen, ist das folgerichtig. Wobei auch hier bei genauem Hinsehen festzustellen ist, dass in Baden-Württemberg ein Volksentscheid nur stattfindet, wenn es den Initiatoren gelingt, innerhalb von 14 Tagen 1,2 Mio. Unterschriften zu sammeln, was an Unmöglichkeit grenzt. Es bedarf auch hinsichtlich der Volksentscheide dringend erst einmal der Schaffung von Möglichkeiten, sie überhaupt stattfinden zu lassen. Genau das Gegenteil verfolgt aber die amtierende Landesregierung, indem sie von vornherein ein Plebiszit mit Hinweis auf verfassungsrechtliche Bedenken ablehnt und sich selbst damit jeder Möglichkeit beraubt, in einem eskalierten Konflikt friedensstiftende Instrumente in der Hinterhand zu behalten.
Rahmenbedingungen verändert
Das verklausulierte „Wehret den Anfängen“ etwa des konservativen Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, der sich kürzlich dahingehend geäußert hat, Anstimmungen über bereits von Parlamenten und Gerichten gebilligte Maßnahmen seien rechtlich problematisch und gefährdeten Großprojekte grundsätzlich, sticht einfach nicht. Die breite Öffentlichkeit hat jetzt nach vielen Enttäuschungen und Täuschungen die Forderung nach mehr Demokratie erhoben und damit muss die Politik umgehen. Denn gerade bei Großprojekten muss in Zeiten des Controlling und der Zielvereinbarungen, des „Lean Management“ und der höchsten Flexibilität, die Unternehmen von ihren Mitarbeitern erwarten und intern doch längst praktizieren, dieses Controlling und Konsequenzen daraus auch möglich sein. So muss gerade der Steuerzahler als Finanzier und letztlich Auftraggeber erwarten können, dass auf die Veränderung ganz wesentlicher Rahmenbedingungen reagiert und steuernd eingegriffen werden kann. In der Tat hat sich seit Beginn der Planungen 1994 viel verändert. Es gab eine Erschütterung der Weltwirtschaft durch 9/11, zwei kostspielige Militäreinsätze Deutschlands in der Welt, eine Krise am neuen Markt, eine Bankenkrise mit folgender Wirtschaftskrise, eine dramatisch steigende statt sinkende Staatsverschuldung und schwächelnde Wirtschaften in der EU mit Großbritannien, Griechenland und Portugal. Angesichts solcher Verwerfungen während der Planung eines Großprojektes dieser Art muss doch eher an der Vernunft derer gezweifelt werden, die suggerieren wollen, derartige Milliardenprojekte könnten jeder gravierenden Veränderung der Rahmenbedingungen trotzen, als diejenigen, die nach Kosten und Nutzen fragen. Wenn Korrekturen nach heutigem Planungsrecht nicht möglich sind, dann muss dieses eben möglicherweise ergänzt werden.
Vergleicht man Stuttgart 21 mit dem gerade erfolgreich durchstoßenen Gotthard-Basistunnel, fällt auf, dass die Schweiz darüber drei Volksabstimmungen durchführte und es stutzig machen muss, dass pro Kilometer Alpendurchquerung etwa 260 Mio. Euro zu Buche schlagen, während beim Stuttgarter Projekt jeder Kilometer Tunnel ein Vielfaches davon kosten wird. Das Argument, die Deutsche Bahn sei doch nun ein Privatunternehmen, wird von den Bürgern schon lange als windig durchschaut. Nicht nur wegen der Eigentümerschaft des Bundes, sondern weil alle wissen, dass jeder Euro, den Stuttgart 21 mehr kostet, entweder in Form von Fahrpreiserhöhungen auf sie zu kommt, oder aus Steuermitteln von der Allgemeinheit und damit wieder von ihnen aufgebracht werden wird. Und deshalb fühlen sie sich auch berechtigt, über die Kostensteigerungen des Projektes zu debattieren und mit zu bestimmen und sie handeln damit eher verantwortlicher, als die der Parlamentarier, die bereits vor Jahren den Finger dafür gehoben haben.
Verlust von Legitimität und Vertrauen
So ist die beherrschende Strategie der Landesregierung die einer sich selbst gegen Widerspruch immunisierenden „Augen zu und durch“ Partei, die im letzten Jahrhundert stehen geblieben ist. Das kommunikative und demokratische Desaster von Stuttgart 21 ist auch das politische Desaster einer rückwärtsgewandten Herrschaftselite, von der der ehemalige Nordrhein-Westfälische CDU-Bauminister Lutz Lienenkämper öffentlich sagt, dies sei „eine andere Kultur“ als die seiner NRW-CDU, die in vergleichbaren Fällen immer auf die Einbeziehung der Bürgerschaft setzen würde. Glaubwürdig ist dies, nicht zuletzt da in NRW die Zahl der kommunalen schwarz-grünen Koalitionen inzwischen die der rot-grünen zahlenmäßig um ein Drittel überwiegt. Dagegen steht im Südwesten eine Union von Vorgestern, die nicht verstehen kann oder nicht verstehen will, dass in der modernen Demokratie sich Recht und Institutionen immer wieder neu legitimieren müssen, indem sie ihre friedensstiftende Funktion wirkungsvoll auch tatsächlich und nicht nur formal erfüllen. Wenn aber die Politik so versagt, dass die Legitimität, die Verfahren verleihen, nicht ausreicht, um Konflikte zu befrieden, dann hilft es nicht, über den zivilen Ungehorsam der Bürger zu lamentieren, sondern ist nachzudenken, wie dieser Verlust an Legitimation des Staates zurück gewonnen werden kann.
Größter Polizeiskandal seit dreißig Jahren
Stattdessen hat die Landesregierung auf dem Höhepunkt der Proteste geglaubt, die Probleme mit Polizeigewalt niederknüppeln zu können und damit einen Proteststurm ungeahnten Ausmaßes ausgelöst. Mit drei Schwerverletzten und 130 weiteren Verletzten, einem 66-jährigen dauerhaft erblindeten Demonstranten stellt die Gewaltaktion der Polizei von Ende September einen in der jüngeren Geschichte der Bundesrepublik Deutschland einmaligen Gewaltexzess polizeilichen Fehlverhaltens dar. Mir ist kein Fall aus der Vergangenheit bekannt, in dem man wie in Stuttgart mit Wasserwerfern Jagd auf einen Rollstuhlfahrer gemacht hätte und mir konnte bisher niemand erklären, wieso die Polizei in anderen Bundesländern, ob NRW, Rheinland-Pfalz oder Niedersachsen sogar an Schienen gekettete oder einbetonierte Menschen befreien und wegtragen kann, wieso das aber bei Schülern, die sich vor einen Baum stellen, nicht gehen soll.
Auch wenn es immer problematisch ist, einen Polizeieinsatz über die Medien zu beurteilen, bleibt doch festzuhalten, dass der Einsatz von Tränengas und Pfefferspray ebenso unverhältnismäßig war, wie der von Wasserwerfern – und politisch dumm dazu. Wenn es bei Demonstrationen zu Verletzungen von Demonstrierenden kommt, kann dies grundsätzlich vier Ursachen haben:
- Fehlverhalten und Fehleinschätzungen von Einsatzkräften oder einzelnen Beamten vor Ort. Das kann aufgrund der öffentlich ausgestrahlten Filmmaterials zumindest in einem Fall vermutet werden, erklärt aber weder die Härte, noch die Rücksichtslosigkeit des gesamten Polizeieinsatzes. Es verwundert allerdings, wieso dieser Beamte nicht von seinen Kollegen angezeigt wurde, wozu sie nach dem Gesetz verpflichtet wären.
- Überforderung der Beamten, weil zu wenig Einsatzkräfte zu lange im Einsatz gelassen werden, sodass Stresssituationen entstehen. Dafür gibt es ebenso wenig Anhaltspunkte, wie dafür, dass für eine deeskalierende Anwendung unmittelbaren Zwangs in Form von Wegtragen der Demonstranten zu wenig Einsatzkräfte vor Ort gewesen wären. Natürlich bedarf es dafür einer entsprechenden Überzahl an Beamten, die eine politische Führung aber bei geplanten Lagen – und die Fällaktion war geplant – anfordern kann – wenn ihr an einer friedlichen Räumung gelegen ist.
- Fehleinschätzungen und falsche Entscheidungen der Polizeiführung in Vorbereitung und Durchführung des Einsatzes. Da das Baden-Württembergische Führungspersonal der Polizei in den letzten 30 Jahren an der gleichen Polizeiführungsakademie in Münster ausgebildet wurde, wie das anderer Bundesländer, kann unterstellt werden, dass Deeskalation für die dortigen leitenden Beamten keineswegs ein Fremdwort ist und deshalb mit Sicherheit davon auszugehen ist, dass sie der Politik erklärt haben sollte, was Aufgabe der Polizei in einem solchen Falle ist:
- a) Die Polizei hat zum einen das Grundrecht auf Demonstrationsfreiheit zu schützen und
- b) zum anderen den Rechtstitel der Bauherrn durchzusetzen.
Dies ist in der konkreten Situation ein zeitlich für die Sicherheitskräfte durchaus gestaltbarer Prozess, der immer Spielräume zur Deeskalation lässt. Zumal Bäume zu fällen unter keinem tatsächlichen Zeitdruck steht, wie etwa die Räumung von Schienen vor einem rollenden Zug mit Castorbehältern. Offensichtlich ist, dass die vorhandenen Möglichkeiten zur Deeskalation also nicht genutzt wurden und so etwas wird immer politisch entschieden!
- Fehlentscheidungen der Politik, die sich für einen Einsatz entscheidet, der durch Eskalation ein „Exempel“ statuiert. Alle Fakten deuten für Fachkundige darauf hin, dass dieser Einsatz politisch angeordnet und gewollt wurde. Cem Özdemir hat mit seiner Formulierung, dass hier jemand „Blut sehen“ wollte, den Nagel auf den Kopf getroffen. Gerade weil der Stuttgarter Polizeipräsident, der aus der Vergangenheit für besonnene Einsätze und deeskalierende Polizeitaktik bekannt war, die „alleinige Verantwortung“ für diesen Einsatz auf sich genommen hat, muss man an seinen Worten zweifeln, denn diese Aktionen tragen nicht seine Handschrift, sondern die politischer Hardliner. Und die braucht man nicht lange zu suchen.
Weil alle Begleitmusik deutet darauf hin, dass die Konfrontation provoziert wurde, wie etwa die unwahre Behauptung von Stefan Mappus, die Demonstranten hätten mit Pflastersteinen Polizisten angegriffen, welche Tags drauf zurückgenommen werden musste. Zeitlich manipulierte „Beweisvideos“ der Polizei in Internet und der massive disziplinarische Druck, der inzwischen auf Gewerkschafter der Polizei ausgeübt wird, die sich zum Einsatz öffentlich kritisch geäußert haben, liegt auf der Hand, dass der Einsatz mit Wasserwerfern und Schlagstöcken auf massiven Druck der Politik hin angeordnet worden ist, denn das ganze Einsatzszenario erscheint widersinnig. Da finden sich im Park in der Nähe der Schüler die martialisch ausgestatteten „Festnahmetrupps“ – Spezialeinheiten, deren Aufgabe es ist, bei mit hoher Wahrscheinlichkeit gewalttätigen Demos z.B. bei Neonazi-Aufmärschen einzelne Rädelsführer oder einzelne Steine werfende Autonome mit massivem Einsatz heraus zu brechen und dingfest zu machen. Für deren Einsatzzweck gibt es keinerlei Begründung. Da sieht man andere Einheiten, die ohne Kopfbedeckung unterwegs sind, – was nur bei Deeskalationslagen vorkommt, die aber den Tonfa-Stock oder Pfefferspray gezielt gegen einzelne Demonstranten einsetzen, ein polizeitaktisch geradezu stümperhaftes verhalten. Wirkungslos, es sei denn zur Provokation von Gewalt gemeint, der gezeigte Einsatz von Pfefferspray, einer Einsatzwaffe der Polizei zur Selbstverteidigung. Keiner der in den Medien gezeigten Polizisten schien sich in einer Lage als Angegriffener oder Eingekesselter zu befinden, die einen solchen Gebrauch gerechtfertigt hätte.
Der Einsatz der Wasserwerfer mit seinen bedauernswerten Folgen für die Opfer war unnötig, unverhältnismäßig und eine Machtdemonstration, die letztlich auf dem Rücken der Polizeibeamten ausgetragen wurde. Aus den Reihen von Einsatzhundertschaften etlicher anderer Bundesländer war Wochen nach den Einsätzen Kritik und Bestürzung über den Verlauf der Räumung zu hören, weshalb sich jeder hüten sollte, Polizisten über einen Kamm zu scheren. Polizei ist ein Instrument des Rechtstaates und wie sie eingesetzt wird, sagt viel darüber aus, welchen Stellenwert die Bürgerrechte im jeweiligen Bundesland genießen. In Nordrhein-Westfalen hat es seit über 25 Jahren keinen Wasserwerfereinsatz mehr gegeben, obwohl bei vielen Neonazi- und Antifa- Demonstrationen, aber auch anlässlich von Castor-Transporten nach Ahaus viele schwierige Lagen mit zum Teil weit härterer „Klientel“ bei Demonstrationen aufgetreten sind. In Baden-Württemberg besteht offensichtlich bürgerrechtlicher Nachholbedarf – nicht weil Polizei nichts anderes könnte, sondern weil diese Landesregierung nichts anderes wollte.
Gewalt schafft Gegengewalt
Die Eskalation des Stuttgarter Einsatzes zeigt aber nicht nur die Hilflosigkeit und das Unverständnis der Verantwortlichen gegenüber modernen Formen von zivilem Ungehorsam. Sie prägt damit auch ein ganz bestimmtes Bild von Polizei besonders bei jungen Menschen. Jugendliche, die sich erstmalig engagieren, an einer Demonstration teilnehmen und Polizei so erfahren, wie sie in Stuttgart aufgetreten ist, deren Vertrauen in diese Institution wird möglicherweise nachhaltig geschädigt. Die unbestrittene Tatsache, dass wohl einige Demonstranten Polizisten mit Kastanien beworfen haben, taugt zwar nicht, um deren angebliche Gefährlichkeit zu beweisen, wie es Innenminister Rech versuchte. Aber sie muss doch nachdenklich machen, wie unerfahren und naiv auch die Demonstranten sich verhalten haben. Jeder „geübte Autonome“ in Hamburg oder Berlin weiß, dass es nicht darauf ankommt, was fliegt, sondern dass etwas fliegt – und dann geht’s los, dann ist Eskalation bestellt. Ungeschickt sind viele Gutmenschen naiv in die von Mappus und Co aufgestellte Gewaltfalle gerannt. Deshalb hat die Friedensbewegung, haben die Atomgegner und viele andere immer wieder trainiert, sich nicht provozieren zu lassen. Auch friedlich „weggetragen werden“ muss gelernt werden, insbesondere wenn die Staatsgewalt unberechenbar ist und zum Knüppeleinsatz neigt, wie in Stuttgart. Und wenn die Staatsmacht nicht bereit ist, zu deeskalieren, dann müssen Demonstrierende den ersten Schritt tun und phantasievolle, aber friedliche Protestformen entwickeln. Auch im Verhältnis Bürger und Polizei steht Stuttgart vor einem Scherbenhaufen und es wird Vertrauensbildung und Anstrengungen von beiden Seiten bedürfen, diese Situation zu überwinden.
Willkommen in der politischen Gegenwartskultur
In welcher rückwärtsgewandten Realität die Politik im Ländle agiert, dokumentierte einmal mehr der hilflose Versuch, fünf Tage nach den Polizeiübergriffen, mit Filmsequenzen angeblich militanter Demonstranten den Einsatz zu rechtfertigen, während längst hunderte von Handyvideos im Internet und über die Sender gelaufen waren, die eine ganz andere Realität zeigten. Von einem angeblich so der Modernisierung, den Neuen Techniken und dem Internet gegenüber aufgeschlossenen Baden-Württemberg war da keine Spur. Nur autoritärer Muff von 48 Jahren selbstherrlicher Regierung einer Partei, die sich seit 1952 ununterbrochen an der Macht, die Staatsmacht selbst anmaßt und zeigte, dass sich ihre Methoden kulturell überlebt haben. Hier Obrigkeitsstaat, dort moderne Zivilgesellschaft. Autoritäres Durchregieren und dealen mit der Wirtschaft trifft auf kritische Fragen der bürgerlichen Mittelschicht und es sind die eigenen langjähriger CDU-Wähler, die sich bei kritischen Fragen nicht mehr abwimmeln lassen und ehrliche Antworten wollen.
Fragen in der Sache gibt es viele, wie die nach einer voraussichtlichen Explosion der Kosten von 7 auf 11 Mrd. Euro, die Frage, warum schwere Güterzüge die neue ICE-Strecke nach Ulm gar nicht befahren können, warum der Regionalverkehr mit Stuttgart 21 eher schlechter als besser angebunden werden wird. Warum ein Projekt dieser Größe anderen dringend notwendigen Ausbaumaßnahmen entgegensteht, weil die Bahn in den nächsten Jahren bundesweit gerade mal noch 1,2 Mrd. Euro jährlich für den Ausbau des gesamten Schienennetzes verbleiben. Solche Fragen haben einen natürlichen Resonanzboden in der schwäbischen Sparsamkeit. Sie sind aber auch legitim und angesichts der Staatshaushalte gerechtfertigt. Die von der Kanzlerin selbst zitierte „Schwäbische Hausfrau“ würde möglichweise angesichts der bisher vorliegenden und kursierenden Zahlen, „des könnet mir uns net leischte“ sagen und die Tunnelbauer bremsen. Man wird im Ländle höchst misstrauisch, wenn Zahlen immer wieder nach oben korrigiert werden müssen. Hinzu kommt eine Grundstimmung, nicht nur in weiten Teilen der Mittelschicht und schon gar nicht nur in süddeutschen Gefilden – spätestens ab hier verbietet sich jeder folkloristische Bezug – die bestimmt ist vom Gefühl der Ohnmacht gegen das, was der amerikanische Filmemacher Michael Moore im vergangenen Jahr als „den größten Bankraub der Geschichte unter unser aller Augen“ bezeichnet hat.
Die Bürger wollen einfach Demokratie
Die nachhaltige Empörung aufgrund der dreisten Aneignung von Spargroschen und Anlagen der Bürger und derzeit auch noch von rettenden Steuergeldern durch Manager, die ein Jahr nach der Krise schon wieder Riesenboni in ihre Taschen stecken, wird von den meisten Politikern, die gewöhnt sind, in Haushalts- und Legislaturperioden zu denken, völlig unterschätzt: Sowohl beim 750 Mrd. Banken-Rettungspaket als auch beim Rettungsschirm für Griechenland wurden von der Politik Entscheidungen gefällt, bei denen die Bürger befürchten müssen, dass die Haushalte und damit sie selbst und ihre Kinder über Jahrzehnte belastet werden. Dazu das Wissen oder Ahnen , dass Laufzeitverlängerung für AKW den Strom doch nur verteuern und den Konzernen fette Gewinne einbringen und die Gesundheitskosten trotz Reformen die Pharmaindustrie schonen, während die Beiträge für die immer kleiner werdende Mittelschicht steigen und steigen, ist verbreiteter, als die Politik in ihren Raumschiffen glaubt – parteiübergreifend.
Schlimmer noch – die zugrunde liegenden Entscheidungen wurden jahrelang als „alternativlos“ dargestellt. Alternativlos nannte Gerhard Schröder die Hartz-Reformen. Alternativlos die Rente mit 67, alternativlos die Steuergeschenke für Hoteliers. Alternativlos der jahrelange Verzicht der Facharbeiter und mittleren Angestellten und Beamten auf Gehaltserhöhungen verbunden mit der steigenden Angst um Arbeitsplatz und sozialen Status. Alternativlos fünf Euro mehr für Hartz IV Empfänger und Bildungsgutscheine für ihre Kinder. Alternativlos ist laut Angela Merkel auch Stuttgart 21. Ist es da so verwunderlich, dass weite Teile der Bevölkerung eine „Es reicht!“ – Stimmung empfinden? Ist es so abwegig, dass nach den zahllosen „Alternativlosigkeiten“ der jüngsten Geschichte, die entweder mit Sozialabbau oder Rentenkürzung, Mehrausgaben oder Steuererhöhungen einher gingen von vielen Bürgern als Etikettenschwindel empfunden wurden? Kann es nicht einfach sein, dass Stuttgart 21 der Tropfen ist, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat?
Was folgt auf Zorn und Wut?
Lügen, Halbwahrheiten, Immunisierung gegen Kritik und ein Demokratieverständnis des 19. Jahrhunderts haben in Stuttgart eine Glaubwürdigkeitskrise erzeugt, die die entscheidende Ursache hinter den Protesten gegen Stuttgart 21 zu sein scheint und sie vehement verstärkt. Politik, die Glaubwürdigkeit zurückgewinnen will, muss bereit sein, endlich über Alternativen zu reden, die es in der Politik immer gibt wie z.B. das Kopfbahnhofprojekts K21 Stuttgart. Es ist noch nicht entschieden, dass sich etwas bewegen wird, denn alle Äußerungen von Bahnchef Grube und Stefan Mappus laufen auf ein „weiter so“ hinaus. Damit wäre das politische Schicksal des noch amtierenden Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg besiegelt und die Wahrscheinlichkeit, dass es der CDU gelingt, die Stimmung angesichts des Desasters noch einmal zu drehen, höchst unwahrscheinlich. Dieser Ausstieg würde teurer, als ein rechtzeitiges, intelligentes Einlenken – weder Mappus noch Merkel scheinen aber bisher willens, ihre „alles oder nichts“ Strategie aufzugeben. Dabei hat die Kanzlerin als eigene Kronzeugin gegen jede Alternativlosigkeit mit ihrer Aufkündigung des Konsenses zum Atomausstieg selbst gezeigt, dass es möglich ist, sogar teure Alternativen wider alle Vernunft zu beschließen – wenn nur eine ausreichend starke Lobby dahinter steht.
Wer die Protestursachen ernst nimmt, wird schnell erkennen, dass es nicht darum gehen kann, einfach die vorhandenen Pläne besser zu erklären und weiter zu machen. Es mag Informationsdefizite bei vielen Menschen geben, doch es wäre völlig falsch zu glauben, die Menschen gingen aus Unwissenheit auf die Straße – genau das Gegenteil ist der Fall. Sie haben die Erfahrung gemacht, wie sich Politik in den letzten Jahren gegen Bürgerbedenken immun gezeigt hat und sie ziehen daraus die Konsequenz. Deswegen fordern auch so viele Protestierende, endlich ernst genommen zu werden. Und zur Ernsthaftigkeit gehört es auch, dass einem offenem Dialog ein offener Prozess folgt. Aber weder Ministerpräsident Mappus, noch Bahnchef Grube haben bisher erkennen lassen, dass sie dies ernsthaft in Erwägung ziehen und daran kann auch die Schlichtung Heiner Geisslers letztlich noch scheitern.
Schlichtung unter Fensterreden?
Eine entscheidende Frage ist, welche Entwicklung das Schlichtungsverfahren überhaupt eröffnen kann. Die Schlichtung hat eine Chance, wenn wirklich alle Informationen auf den Tisch kommen und wenn der Prozess des Austauschs auch dazu führt, dass Türen zu Alternativen wieder eröffnet werden, ernsthafte Optionen auf Änderungen im Prozess entstehen. Ob dies in einem Prozess möglich ist, der wie bisher angekündigt, auf totale Öffentlichkeit setzt, darf mit Spannung und Zweifeln erwartet werden. Ist doch die Erfahrung aus Tarifverhandlungen, Parlamenten und Mediationsverfahren eher die, dass in öffentlichen Gremien Fensterreden gehalten werden, während man sich hinter verschlossenen Türen schon eher aufeinander zu bewegt. Ein Annäherungsprozess erfordert, dass auch Dinge an- und ausgesprochen werden, ohne dass das Gegenüber dabei sein Gesicht verliert. Aber vielleicht wird es ja mit Fortschreiten des Prozesses noch Möglichkeiten des echten aufeinander Zugehens geben.
Politischer Selbstmord, aber nicht auszuschließen, wäre dagegen ein Zeitspiel von Landesregierung und Bahn und der Versuch, auf Beschäftigung der Projektgegner mit dem Dialogprozess zu spekulieren, um währenddessen weiter Fakten zu setzen und Verträge abzuschließen. Stünde dies am Ende eines Schlichtungsverfahrens, hätte sich dasselbe selbst ad absurdum geführt und der politische Schaden wäre vervielfacht. Indes ist nicht auszuschließen, dass angesichts der derzeitigen Umfragewerte der Parteien die Mappus- CDU keine andere Alternative mehr sieht, als es einer künftigen Grün-roten Landesregierung so schwer und so teuer wie möglich zu machen, das Projekt oder auch nur Teile davon noch zu verändern. Insofern wäre weniger ein Baustopp, als ein Stopp Fakten schaffender Vertragsabschlüsse ein wichtiges Zeichen und eine Vertrauen bildende Maßnahme gewesen.
Öffentlichkeit fordert offene Medien
Auch die Rolle der Medien wird im Schlichtungsprozess sicher nicht zu unterschätzen sein und es ist für Betrachter aus anderen Bundesländern bisweilen befremdlich, deren Rolle zu verstehen. So haben sich nach Meinung vieler Beobachter die beiden örtlichen Zeitungen und der Südwestrundfunk bisher nicht gerade durch Staatsferne ausgezeichnet. So wurden etwa nach den Übergriffen der Polizei vom 30. September die Parkschützer im Regionalfernsehen vom Moderator angegangen, wie lange sie denn ihr illegales Treiben noch fortsetzen wollten. Während die rührenden Bemühungen der Töchter des Ulmer IHK-Präsidenten, mit „Pro Stuttgart 21“ Plakaten bewaffnet, die Parkschützer vor Ort zu provozieren, dem SWF-Fernsehen ein rührendes Filmchen über positives, wenn auch etwas argumentativ schwächelndes Bürgerengagement wert waren. Nicht ohne subtil den Hinweis eines Polizisten an die adretten Mädels näher zu bringen dass sie doch „im Interesse ihrer Sicherheit“ lieber den Pro 21 Button abnehmen sollten. So gefährlich sind die Gegner also – inwieweit es auch die Aufgabe der Polizei ist, auch deren Grundrecht auf Demonstrationsfreiheit zu schützen, war wohl als Fragestellung nicht in die Gedankenwelt der Autoren des betreffenden Beitrags vorgedrungen.
Verwunderlich auch die Rolle der „Stuttgarter Zeitung“ (StZ), früher als linksliberales Blatt bekannt. Während etwa die „Waiblinger Kreiszeitung“ über die Demonstration von am 10.September 2010 über mehr als zwei Seiten berichtete, war dasselbe Ereignis der StZ gerade mal einen Zweispalter wert. Die Stuttgarter Zeitung schwieg nicht nur zur außerordentlichen Qualität der Polizeigewalt drei Wochen später, ihr Chefredakteur Dorfs verstieg sich dazu, die Opfer der Übergriffe per Kommentar zu verhöhnen, bei Stuttgart 21 gehe es nicht um die „Würde des Menschen“ sondern um einen Bahnhof und deshalb seien Sitzblockaden und ziviler Ungehorsam „unangemessen“. Könnte dies, vermutet der „Stern“ damit zusammen hängen, dass das Verlagshaus der „Stuttgarter Zeitung“ im Jahr 2008 zur Finanzierung der Beteiligung an der „Süddeutschen“, einen 300 Mio. Euro Kredit von der Landesbank LBBW erhielt, in deren Aufsichtsrat Stefan Mappus, sein Finanzminister Willi Stächele, Stuttgarts OB Schuster sowie die S-21 Anhänger und Unternehmer Heinz Dürr und Dieter Hundt sitzen? Sie berichtet jedenfalls so „konstruktiv“ über Stuttgart 21, dass ein ehemaliger Chefredakteur heute bereut, „S21“ zu „StZ 21“ gemacht zu haben.
Demokratie statt Filz und autoritäres Gehabe
Welche einzelnen Motive und Ursachen in welchem Ausmaß die Empörung und die Unzufriedenheit der Menschen in und um Stuttgart antreiben mag, es geht jedenfalls um wesentlich mehr, als nur um ein Bahnhofsprojekt. Deshalb könnte sich auch der nun mit der Schlichtung eingeschlagene Prozess und die Frage, ob er fair verläuft, Transparenz schafft und Bürger wirklich ernst nimmt und Mitentscheiden lässt, als wichtiger erweisen, als ein Ergebnis Pro oder Contra. Politische Chancen im Ländle hat derzeit nur, wer bereit ist und wem es gelingt, die Verfahren zur demokratischen Legitimation von Planungen von Grund auf zu erneuern und neues Vertrauen zu schaffen.
Die zentrale Konfliktursache bei Stuttgart 21 ist der Politikstil der Landesregierung und ihres Chefs Mappus. Früher reichte es, in der Jungen Union jahrelang die politische Schulbank gedrückt und dann in der Partei die richtigen Mehrheiten organisiert zu haben, um automatisch Ministerpräsident von Baden-Württemberg zu werden. Das mag bei Erwin Teufel und Günter Oettinger noch geklappt haben, 2010 funktioniert es nicht mehr. Wie einstmals in Nordrhein-Westfalen für die SPD ist die Zeit in Südwestland einfach reif, um den jahrzehntelangen Filz zwischen Politik und Wirtschaft zu beenden, der bei der Landesregierung beginnt und bei Lothar Späth als Aufsichtsrat des Tunnelbauers Herrenknecht und vielen anderen politischen Verfilzungen der CDU und auch der SPD mit Firmen, Banken und Sparkassen noch lange nicht aufhört. Erste Versuche, die Interessengeflechte und „Vetterleswirtschaft“ um das Projekt herum auszuleuchten, gibt es schon.1
Es geht um die Demokratiedefizite eines Landes, dessen Bürger lange geduldig sind, die aber schon bei den Bauernkriegen und der demokratischen Revolution 1848 gezeigt haben, dass sie dann gegen die Autoritäten besonders aufmüpfen, wenn sie glauben, dass das Maß voll ist. Das einzige wirklich an Protesten gescheiterte Atomkraftwerk wurde im badischen Wyhl verhindert und über vierzig Jahre später sind es die Schwaben, die wegen Stuttgart 21 einfach mehr Demokratie einfordern. Deshalb muss eine neue Landesregierung schnell die Hürden für Bürger- und Volksentscheide drastisch heruntersetzen, mehr Transparenz und ein allgemeines Akteneinsichtsrecht schaffen, eine andere Polizeipolitik betreiben, die das Vertrauen zwischen Bürgern und Staatsmacht wieder herstellt. Neue bürgernahe Planungsverfahren unter Einbeziehung des Bürgerwillens in Stadtentwicklung, Gebietsentwicklungspläne, Flächennutzungen und Bebauungspläne gibt es längst. Politikwissenschaftler der Universität Wuppertal und andere haben damit erfolgreich seit Jahren auch Großprojekte in anderen Bundesländern mit den Anwohnern gemeinsam und erfolgreich geplant. Derlei hat Lothar Späth schon als Ministerpräsident gerne diffamiert, weil „die Schtudende am liebschte Diskussionswisseschafte studiere würdet“.
Nun ändern Bürger die Zeiten, vielleicht zeigt sich ja bald, dass auch Baden-Württemberg etwas mehr Demokratie kann. 1) http://www.heise.de/tp/r4/artikel/33/33536/1.html
Dieser Artikel erschien erstmals in der “Rheinischen Allgemeine”, Herausgeber Heinz Tutt, ehem. Redakteur des “Kölner Stadtanzeiger” in Düsseldorf:
Roland Appel (Jg.1954) geboren in Köln, aufgewachsen in Esslingen/N. ist Unternehmensberater in Bonn und Experte für Bürgerrechte und öffentliche Sicherheit. In den 70er Jahren politisch engagiert bei Jungdemokraten und FDP Baden-Württemberg, arbeitete er 1983 beim „Schwäbischen Tagblatt“ in Tübingen, dann in der Grünen Bundestagsfraktion und wurde von 1990 bis 2000 Abgeordneter und Fraktionsvorsitzender der Grünen im Nordrhein-Westfälischen Landtag. Er wurde von der Gewerkschaft der Polizei als „Ehren-Polizeikommissar“ ausgezeichnet und ist er seit über 20 Jahren Mitglied der „Humanistische Union “. Appel spricht neben Hochdeutsch fließend Kölsch und Schwäbisch.
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