Alte Medien ergötzen sich an Drogengeschichten: unsere Abhängigkeit vom Smartphone. Kleinkinder und Säuglinge, die damit Lesen und Schreiben lernen. Schreib- und Schönschrift wird abgeschafft, wie das Bargeld. Nichts bleibt. Bei den Alten breitet sich Panik aus; sie halten sich für dement, nur weil sie nicht mitmachen.

Sie irren. Was die alten Digitalverweigerer leben, ist in Zukunft nur noch der Milliardärsoberklasse vergönnt. Sie lassen arbeiten. Also lassen sie auch die neuen Medien entwickeln und benutzen, geniessen aber selbst das Privileg, damit nicht persönlich behelligt zu werden. Und wenn sie es sich leisten können: ihre Kinder auch nicht. Viele lachen oder schütteln den Kopf über Chefs, die sich immer noch E-Mails ausdrucken lassen. Das ist nicht zum Auslachen, sondern zum Beneiden – wer sich das heute noch leisten kann, ist aus dem Gröbsten raus.

Was macht das mit unserem Charakter, unseren Sozialbeziehungen?

Das sind die oberflächlichen Skurrilitäten. Weniger beachtet und bisher kaum erforscht, weil diese Entwicklung noch zu jung ist, was das Neue mit uns, mit unserem Charakter und unseren Sozialbeziehungen macht. Die unbekannten Tiefenströmungen.
Sind die “(a)sozialen Netzwerke” Kreatoren/Erschaffer sozialer Beziehungen und Netzwerke – oder ihre Killer? Ist es Zufall, dass marodierende Faschisten mit ihnen effizienter umgehen, als Organisator*inn*en linker Solidarität? Liegt es an unterschiedlicher sozialer Basis und Tradition? Oder am Alter?

Einerseits gelten Nerds als männlich dominiert. Andererseits sind es Frauen, von den USA (#metoo) bis zum Iran (Antikopftuch-Bewegung auf Youtube, hier eine weitere Analyse von Charlotte Wiedemann) denen es gelingt, mit den neuen Medien soziale diskursmächtige Bewegungen zu kreieren.

Die IT-Industrie hat eine neue übersichtliche Milliardärsklasse mit sich gebracht, in China, Kalifornien und Sinsheim (Alterssitz: Potsdam). Denen ein globales Heer prekärer Dienstleister*innen, sowie Milliarden sich datenpolitisch nackig machender Nutzer*innen und Konsument*innen gegenübersteht. Wenn die merken, dass ihre Daten ihr ganzes Vermögen waren, das sie achtlos verschenkt haben und ihrer enteignet sind, dann ist es zu spät.

Von neuer Technik überwältigt

Neue Technik kommt immer vor ihrer kulturellen und sozialen Beherrschung durch die Menschen. Letzteres braucht historisch gewöhnlich mindestens 1 1/2 ganze Menschengenerationen. Technische Innovationen beschleunigen dagegen, angetrieben von kapitalistischer Konkurrenz- und Wachstumslogik, immer stärker. Als ich das Wort “langlebige Konsumgüter” als Kunde in einem Elektronikmarkt aussprach, musste der Verkäufer, der den Begriff immerhin noch kannte, sehr lachen …. Die Menschen werden also im Sinne des Wortes von neuer Technik überwältigt. Exakt das ist Philosophie und Strategie der IT-Milliardäre. Der Kampfbegriff lautet treffend: “Killer-Applikation“. Nur so glauben sie sich Monopole und Extraprofite sichern zu können.

Laufen wir also in eine feudalistische Zeitschleife? Danach sieht es aus. Unsere demokratisch gewählten Politiker*innen verstehen es so wenig, wie ihre Wähler*innen. Sie sind keine Bestenauslese, sondern eine vom Neoliberalismus schon lange ausgehöhlte spezielle Spezies.
Bei uns selbst müssen wir eine Entkulturalisierung unseres alltäglichen Umgangs feststellen. Wie soll ich mich echten Menschen gegenüber verhalten? Die ich überhaupt nicht kenne? Wie wird der/die reagieren, wenn ich dies, und wenn ich das mache? Meine Generation hat das als Kleinkind im Umgang mit echten Menschen gelernt. Wird diese Möglichkeit wenigstens erhalten? Oder müssen sich die Kita-Kinder mit Apple und Bertelsmann begnügen, weil skandalös schlecht bezahlte Erzieherinnen “zu teuer” sind?

Es fehlt an Zeit für Wertschätzung, Genuss, Denken, Streit

Gewöhnliche Umgangsformen, wie ein deutlich artikuliertes “…bitte” und “Danke!” oder ein wertschätzendes “Das war heute aber besonders gut.” sind heute geeignet, privilegiert, freundlich und familiär bedient zu werden. Weil die Mehrheit der Kundschaft Dienstleistungsarbeit nicht wertschätzt, sondern als Rechtsanspruch behandelt. Wenn ich diese und jene Dienstleistung nicht bekomme, kommt mein Anwalt.
So kommt bei der (Dienstleistungs-)Arbeit erst gar keine Freude auf, sondern die Stress-Erkrankungen breiten sich aus.

Diskussions- und Streitkulturen verwildern. Das stärkt deutlich sichtbar in allen Industrieländern die Rechte. Es gibt heute echte Politiker*innen, die glauben ihre Fürze auf dem Facebook-Schulhof seien privat. Wenn es einen Gott gibt, sollte er Hirn vom Himmel werfen. Aber das würde vermutlich achtlos vom Hof gefegt. Kompost oder Sondermüll? Keine Ahnung.

Es fehlt an Zeit.
Fürs Denken. Fürs Ordnen der Gedanken. Fürs Geniessen. Fürs Streiten und Versöhnen.
Mein Schreiben an dieser Stelle ist pure Lust und Luxus.
Willkommen beim Zugucken.
Und gerne auch beim Mitmachen.
Ich weiss, keine Zeit 😉

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
Sie können dem Autor auch via Fediverse folgen unter: @martin.boettger@extradienst.net