Zur Ambivalenz des Verhältnisses zwischen Politik und Journalismus
Von Friedrich Küppersbusch

Rede beim Politischen Bildungsforum Niedersachsen der Konrad-Adenauer-Stiftung am 18. Juni in Hannover, beim Empfang aus Anlass des 60. Geburtstags von Altbundespräsident Christian Wulff.

Nach vorne gucken! Das sagt uns der rüstige Jubilar, wenn er zu seinem 60. Geburtstag keine anderen Sorgen hat als: „Demokratie stärken – den gesellschaftlichen Zusammenhalt sichern“. Echt jetzt? Keine Ruhmesrede, keine tapfere Rückschau auf Krisen und Niederlagen: Enthuldigen Sie bitte, da geht’s lang, zum nächsten Thema. Und das soll die Demokratie sein. Na gut. Traut man den Verben – „stärken“ und „sichern“ –, wird’s aktuell nicht reichen, mit einem feuchten Lappen drüberzugehen. Die Demokratie – geschwächt; der Zusammenhalt – unsicher: Das klingt übel. Volksparteien zerbröseln, politisch Untote entern die Bühne, Jahrzehnte gelebte internationale Beziehungen scheinen jäh zertrampelt. Der Ton wird hart, aber unfair.

Schön. Bad news sind good news – müsste ich als Insasse der Medienbranche mich darüber freuen. Die Eltern des Grundgesetzes machen es uns Journalisten da leicht: Nach Artikel 5 hat jeder „das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt.“ Tja. Demokratie? Zusammenhalt? Davon steht da nichts. Nicht mein Problem.

Halbwegs gut getarnte Menschen

Frage also: Sollten Medien sich um Demokratie und Zusammenhalt scheren? Müssten wir über schlechte Gesetze, zweifelhafte Protagonisten, umstürzende Wahlergebnisse faktentreu und neutral berichten, bis nur noch Artikel 5 wankend steht und wenigstens uns selbst beschützt? Es wäre unser Auftrag. Und unser Ende. Der noch heute vorbildliche Moderator Hanns Joachim Friedrichs sagte: „Einen guten Journalisten erkennt man daran, dass er sich nicht gemein macht mit einer Sache, auch nicht mit einer guten Sache; dass er überall dabei ist, aber nirgendwo dazugehört.“ – „Den gesellschaftlichen Zusammenhalt sichern“ – macht ihr mal, wir gucken zu und berichten. Da haben wir schon mal eine schöne These.

Doch – das ist dumm, wenn man einem 34-jährigen CDUler aus dem Schröderland Niedersachsen gegenübersitzt. So ging es mir vor 26 Jahren bei einem Fernsehinterview mit Christian Wulff. Und ich fand ihn – allein schon, weil seine offenbare Chancenlosigkeit an Dissidenz grenzte – auf Anhieb nicht ganz unsympathisch. Ob er denn auch etwas toll an Ministerpräsident Schröder fände, fragte ich. „Ja, dass er mit Medien glänzend umgehen kann und katastrophale Ergebnisse im Land so verkaufen kann, als wäre er geeignet, nach Bonn zu gehen.“ Da geht’s schon um Medien, glänzenden Eindruck und Verkaufe.

Im Nachgespräch gab mir der junge Milde aus Osnabrück noch auf einem Bierdeckel schriftlich, ich bekäme das erste Interview, wenn er einmal Bundeskanzler sei. Das war ein cooler Move; könnte von Gerhard Schröder sein. Erst Jahre später begann ich mich zu fragen, wie viele Bierdeckel er so verteilt haben mag. Ab da jedenfalls fehlte mir etwas die Distanz, wie Hanns Joachim Friedrichs sie forderte. Man begegnet einem etwa gleichalten jungen Mann, der so rotzfrech handelt, wie er harmlos wirkt. Und sich auf der anderen Seite auf den Weg macht. Die Demokratie zu stärken, immerhin um die eigene Person. So einen behält man im Auge. Nimmt Anteil am Menschen im Politiker. Das ist für Journalisten gefährlich und mitunter täuschend. So wie der Politiker den Medien stets offen entgegentrat. Offenst. Auch das war riskant.

Da haben wir also die Antithese: Medienschaffende und Politiker sind halbwegs gut getarnte Menschen. Man merkt’s aber doch. Wer berichtet – oder Politik gestaltet, als sei er selbst gar nicht da –, belügt sein Publikum. Er ist da. Staatsbürger, Demokrat, Undemokrat, Irrer, doch er ist da. Politiker und Journalisten sind Insassen der schwankenden Dschunke Gesellschaft und Zusammenhalt sichern heißt wenigstens: aufpassen, dass man selber nicht über Bord geht.

Stuhlkreisgedrängel im Fernsehen

Vor vielen Jahren hatte ich die reizvolle Aufgabe, für eine Sondersendung sämtliche Weihnachtsansprachen sämtlicher Bundeskanzler durchzuschauen. Bis 1970 hatten zu Heiligabend die deutschen Regierungschefs das Rederecht, ab da die Bundespräsidenten. 2010 erfand Christian Wulff das Format neu – mit 200 Gästen, Lichterbaum, Kerzenglanz, vielen Kameras, Musikbegleitung. 1963 dagegen sprach Ludwig Erhard. Schmucklos, ein verzagter Stumpen Stearin flackerte im grellen Filmlicht vor sich hin, fertig.

Doch das Archiv gab mir keinen Film. Sondern: einen Einkaufswagen voller blecherner Filmbüchsen. Auf den Schneidetisch gewuchtet erhellte sich: „Weihnachtsansprache ’63 Erhard Take 1 …Take 2 …“ und so weiter. In den Schwarzweißfilmschnipseln sah man einen Kameraassistenten – zunehmend verzagt – Zahlen von der Filmklappe wischen. Bei jedem Versprecher des Kanzlers ein neuer Versuch, das ging bis über 20 Takes für fünf Minuten ans Volk. Erhard strauchelte und haspelte ein ums andere Mal beim Versuch, einen klaren Gedanken auszusprechen. Diesen: „Was menschliche Sorgen und Nöte ausmacht, was uns Nächstenliebe zu üben heißt, was den hohen Wert des Mitfühlens, des Mitleidens und Mitfreuens bedeutet, ausschließlich auf die rechenhafte Formel staatlicher Sozialgesetzgebung reduzieren zu wollen, erschreckt mich zutiefst.“ Satzbau als Extremsportart, da kann man sich schon mal verstottern.

In heutige Sprache übersetzt: „Der Staat kann im Rahmen seiner Möglichkeiten Menschen in Not finanziell unterstützen. Aber jemandem Mut zusprechen, jemandem auf die Schulter klopfen, jemandem die Hand reichen: Dafür braucht es Menschen, für die Menschlichkeit wichtig ist.“ Das ist O-Ton Christian Wulff, Weihnachtsansprache 47 Jahre später. Inhalt deckungsgleich. Doch die Medienkompetenz des „Vaters der sozialen Marktwirtschaft“ – Ludwig Erhard – reichte nicht von hier bis zu seiner Zigarrenglut. Es ist nicht gewagt, zu vermuten: Der hätte heute keine Chance. Das harte Qualifying von Lokalradio, Twittergefunkel, Stuhlkreisgedrängel im Fernsehen würde es einem Gründungstitanen dieser Republik verstellen, weit über einen Bezirksbürgermeister hinauszukommen. Im höfisch-autoritär denkenden Mediensystem der 60er war’s wohl gerade gut, Journalisten als Antwort eine tief inhalierte Wolke „Handelsgold“ ins Gesicht zu pusten. Doch falls heute da draußen irgendwo ein neuer Ludwig Erhard wäre – er wird uns entgehen.

Wieder eine Jugend später, 2016: Der Vorsitzende der Jugendorganisation einer großen Volkspartei ist zu einer TV-Talkshow eingeladen. Bis vor kurzem wäre „Vorsitzender der Jugendorganisation einer großen Volkspartei“ für Sie immerhin noch eine Fifty-fifty-Ratechance gewesen. Sei’s drum: Der junge Mann fährt am Studio vor, korrekter Anzug, offenes Business-Hemd, Kleidersack über der Schulter. Er verschwindet in der Maske und kommt bald wieder heraus: in Jeans und Hoodie. In dieser Dienstkleidung diskutiert er in der Show. Danach wieder Maske, Rückverwandlung, korrekter Anzug, nette Verabschiedung. Inhaltlich ging’s auch hier, es war eine Januar-Sendung, um die Befindlichkeit der Nation zum Jahresauftakt.

Über dies halbe Jahrhundert haben viele Politiker sich vom Gegenstand der Berichterstattung zu seinen Akteuren aufgeschwungen. Das schließt einen Charismatiker wie Konrad Adenauer nicht aus, der sich mit einem legendären aktiven Wortschatz von 1000 Wörtern klargemacht haben soll. Die nach ihm benannte Stiftung bietet heute dazu Rhetorik-Seminare an. Zu spät: Wer heute „Demokratie stärken“ will, der kommt am besten gleich als austrainierter Spitzendarsteller zur Welt. Im Sport begeistern wir uns über Mädchen und Jungs, die von den Minikickern direkt ins Fußballinternat hüpfen. Über Virtuosen, die schier vom Kreißsaal sofort ans Klavier kullern. Wir bewundern, wenn jemand seinen Job gelernt hat und von der Pike auf beherrscht. Wir wollen Profis. So auch in der Politik: Schüler-Union, Junge Union, RCDS, CDU. Das ist zwiespältig: Christian Wulff begegnete bei seiner Kandidatur zum Bundespräsidenten das Argument, andere hätten einen Lebenslauf – er hingegen habe eine Karriere.

Der Beruf Politik hat in dieser Epoche eine bemerkenswerte Professionalisierung vollzogen. Wir am anderen Ende des Mikrofons stehen da oft mit dem Gefühl: Ich mache in der Woche vielleicht ein großes Interview – aber der da gibt 20. Im Grunde eine Pokalbegegnung, ehrgeiziger Zweitliga-Frager gegen Champions-League-Antworter. Der Profi-Gast weiß: Der Reporter hat vielleicht 30 Sekunden Sendezeit. Er würgt ein 29,5-sekündiges Textgummi raus und, friss oder stirb, muss leider gleich weiter zum nächsten Termin.

Der durchprofessionalisierte Talkgast

Nur einer von 709 Abgeordneten im aktuellen Deutschen Bundestag gibt als Beruf „Schauspieler“ an. Früher zählte man dort Arbeiter, Bauern, Beamte und immer wieder: Lehrer. Heute führen die Juristen vor den Wirtschaftswissenschaftlern, Politologen und dann erst: Lehrern. Macht nix, denn eine ordentliche politische Talkshow wird nach weit anspruchsvolleren Regeln besetzt: Kasper, Gretel, Schutzmann, Zauberer und natürlich: das Krokodil. Zuverlässige Lieferanten für Kaspers und Gretels waren die Volksparteien. Die Guten. Bisschen harmlos, bisschen farblos, mal eher Vanille, mal Karamell. Der Schutzmann kennt sich mit irgendwelchen Regeln aus und verteilt Knöllchen – da nimmt man gern einen Journalistenkollegen. Auch die Zauberer kennen Sie – das sind die Experten. Also in der Regel Lobbyisten, denen jedoch binnen der ersten zwei Sätze ein unsichtbarer weißer Arztkittel wächst. Das Krokodil entscheidet die Runde. Es muss alle beißen, null Moral einhalten, Konflikt und Stimmung in die Bude bringen. Sagen wir mal – ein stillgelegter SPD-Finanzsenator, der daherredet wie die NPD und im Ergebnis der AfD die Tür aufmacht. Für den gesellschaftlichen Zusammenhalt mag ein Satz wie „Der Islam gehört zu Deutschland“ eine gute Sache sein. Für eine Talkshow ist das Gegenteil besser. Das ist ein Fluch.

Nach Medienkriterien ist also der durchprofessionalisierte Talkgast ein guter Politiker. Er hat sich sogar von Zwängen und Autorität seiner Partei befreit, etwa indem er seinen Wahlkreis direkt gewonnen hat: Gysi, Bosbach, Ströbele – und so fort. Die erste Grünen-Fraktion im Bundestag: stillende Pfarrerinnen, ein Ökobauer im Folklore-Fummel, die Friedensaktivistin und der Bundeswehr-General, ein Taxifahrer in Turnschuhen. Ein perfekter Cast. Und die Fraktionssitzungen wurden erstmals öffentlich übertragen. Mit Tränen, Geschrei und Liebe. RTL 2 brauchte da noch 17 Jahre, um mit „Big Brother“ aufzuwarten.

Doch die Talkshows und das Fernsehen insgesamt verlieren die Meinungsführerschaft. Der klassische, parteipolitische Stuhlkreis ist nur noch ein Angebot für Menschen, die schon in der Schulzeit entschieden haben: Ein, zwei Stunden Sozialkunde pro Woche tun uns nicht weh. Bei den Öffentlich-Rechtlichen verfügen Parteien über Hebel, abgebildet zu werden. Die großen kommerziellen Sender dagegen scheuen Politik und erst recht Parteipolitik. Der Werbekunde reagiert verstimmt, wenn sein Joghurt oder Shampoo nach links oder rechts, blau oder grün riecht. Wer immer sich von dieser Privatisierung günstigere Berichterstattung gewünscht hat – er bekam weniger.

Wir erreichen die Menschen nicht mehr. Parteipolitik und Massenmedien haben sich gemeinsam auf den Weg gemacht: Ab durch die Mitte. Die einen wollen Geld verdienen, die anderen Wählerstimmen. Das ist handlich, denn beides kann man zählen. Versuchen Sie dagegen mal, das Gemeinwohl zu zählen – schwierig. Man wird einander immer ähnlicher. Auch Volksparteien selbst sind Kompromissmaschinen. Das war Adenauers genialische Idee – die christlichen Konfessionen zusammenzufassen, den katholischen Bonzen, den protestantischen Unternehmer und den christlichen Gewerkschafter. Ähnlich später die klassenlose SPD. Tun sich zwei dieser Konsensmaschinen zusammen, liefern sie Kompromisse zwischen Kompromissen und Kompromissen – ein fader Brei, der vielen am wenigsten schadet, doch auch niemanden begeistert. Den Satz können Sie auch hören, wenn Sie fragen, wie die Leute das Fernsehprogramm finden.

Wir haben uns in unserer Macht getäuscht

Die Kundschaft fühlt sich von beidem nicht mehr abgebildet – repräsentiert. Nicht gut für eine repräsentative Demokratie. Und beide, Politik und Medien, reagieren hilflos. Mal radikalisieren wir uns: Das Fernsehen freut sich, jetzt gibt’s sogar schon eine eigene Partei, die komplett aus Krokodilen besteht. Ein paar abgebrannte Brennstäbe aus dem CDU-Endlager, paar Querulanten, fertig. Da kann man zugreifen. Oder es wird unter Gejohle zum öffentlichen Schlachtfest gerufen. Politik und Medien wirken zusammen, bis einer von „Ganz oben – Ganz unten“ ist. Im Fernsehen heißt das „Dschungelcamp“. Dann wieder reagieren wir mit noch mehr Mitte. Noch größere Koalitionen über vier Parteien bis Hollywood sollen den gesellschaftlichen Zusammenhalt retten. Wie voriges Wochenende bei der Oberbürgermeisterwahl in Görlitz.

Wenn wir die Menschen nicht mehr erreichen, ist das erst einmal schlecht für uns. Zeit, sich zu fragen, ob denn die Menschen uns erreichen. Und da keimt Hoffnung: Wenn Schüler freitags blaumachen, um für ihre Zukunft einzutreten, ist es unsere heilige Pflicht, übellaunig und preußisch auf die Schulpflicht zu pochen. Da müssen wir liefern und die frustrierten alten Besserwisser geben, gegen die zu protestieren richtig Sinn macht. Wenn junge Menschen, die sich selbst ertüchtigt haben, als mündige Staatsbürger ihre Meinung rauszuhauen über „Die Zerstörung der CDU“, sollten wir uns die Freude darüber nicht anmerken lassen. Das gelingt ja schon ganz gut. Die wissen offenbar, dass es die CDU gibt und dass die Parteien für irgendetwas stehen können. Dass sie nicht lau sein müssen. Wer darin „Meinungsmache“ sieht und sogleich „Regeln für den digitalen Bereich“ fordert, bittet offensiv darum, an dieser Zukunft nicht mehr teilzunehmen.

So steht am Ende, in aller Einfalt: die Vielfalt. Wir beide, Politik und Medien, haben uns in unserer Macht getäuscht. Das Buhlen um die Massen geht von passiven Konsumenten aus. Die sind nicht passiv. Die melden sich. Je fester wir uns die Ohren zuhalten, desto lauter und auch eskalierender. Was gestern noch eine „bunte Republik“ gewesen sein mag, ist heute schon reichlich grell. Medien und Politik haben miteinander zu schaffen. Wenn das eh schon so ist – warum dann nicht Gutes schaffen? Klar, wir wollen beide im Boot bleiben. Der beste Weg dahin ist, dafür zu kämpfen, dass auch sonst keiner rausfällt. Das Bild vom schwankenden Boot auf hoher See ist dabei kein Zufall.

Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung des Autors (seine Dienststelle finden Sie hier), in der Fassung, wie sie die Kolleg*inn*en der Fachzeitschrift Medienkorrespondenz dokumentiert haben. Auch ihnen gebührt Dank für diese Art der Aufmerksamkeitserregung.

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