Keine weiteren Waffen für die Ukraine – Alternativen im Ukraine-Krieg

Die Sorge vor einer weiteren Eskalation des Krieges in der Ukraine durch die Lieferung schwerer Waffen sollte nach den Worten der Vorsitzenden der Bundestagsverteidigungsausschusses nicht Richtschnur deutscher Politik sein. “Wir sollten uns nicht hinter Eskalationsszenarien verschanzen”, sagte die FDP-Politikerin Strack-Zimmermann am 19.4. der Rheinischen Post. Die Ukraine brauche jetzt sofort schwere Waffen, wie Panzer, um sich verteidigen zu können. Strack-Zimmermann, Habeck, Baerbock, alle Ampelpolitiker*innen starren auf Waffen(lieferungen) und haben keinerlei Phantasie für irgendwelche anderen Lösungen.

Der Ruf nach schneller Lieferung von immer mehr schweren Waffen für die Ukraine reißt nicht ab. Wer noch Einwände hat, steht im politischen und medialen Abseits. Wenn die Politiker*innen nicht von selbst nach schweren Waffen rufen, treiben sie die Moderator*innen der TV-Sender vor sich her – bis hin zur Forderung nach Eingreifen der NATO in den Krieg. Warum denn nicht sofort Panzer, warum nicht wenigstens eine ganz kleine Flugverbotszone, usw.? Immerhin haben im Mai die beiden Offenen Briefe an Scholz gegen die Lieferung von Waffen etwas mediale Aufmerksamkeit erlangt. Dass es sogleich einen „Gegen-Brief“ gab, ist nicht verwunderlich. Am meisten diskutiert wird jetzt der in der „Emma“ erschienene Brief, der vor allem die möglichen Eskalationen und die Kriegsverlängerung als Argumente gegen Waffenlieferungen hervorhebt. Seitdem ist in den Talkshows neuerdings auch ein Stuhl für Bedenkenträger frei.

Die Waffenlieferungen laufen längst auf Hochtouren

Aber die Lieferungen werden forciert. Fast täglich packen USA, NATO und EU milliardenschwere Hilfspakete für die Ukraine, immer inklusive Waffen. Der „Ringtausch“ aus Deutschland hat mit der Lieferung erster 15 Leo-Panzer nach Tschechien begonnen, 50 Leos sollen folgen. Deutschland hat ohnehin schon 2.450 Panzerabwehrwaffen, 1.600 Panzerabwehrrichtminen und 3.000 Panzerabwehrminen geliefert. Rheinmetall bietet der Ukraine gerade 138 Leo-Panzer verschiedener Typen an, die Anträge liegen bei der Bundesregierung auf dem Tisch. Dies in einer Zeit (Ende Mai), in der Selenskyj den Kriegszustand für 3 Monate bis Ende August verlängert hat, um die Bevölkerung auf einen langen Krieg einzustimmen.

Schwere Waffen sollen angeblich Menschenleben retten und die Ausweitung des Krieges verhindern. Dass der Krieg durch weitere westliche Waffenlieferungen in Wirklichkeit aber verlängert wird und so immer mehr Menschen getötet werden, wird ausgeblendet. Auch die Eskalationsgefahr, ein Kriegsübergriff auf Nachbarstaaten bis hin zum atomar geführten 3. Weltkrieg wird verdrängt. Russland kann die waffenliefernden Staaten, die in ihren Ländern auch ukrainische Soldaten ausbilden (Deutschland z.B. in Grafenwöhr) als kriegsbeteiligt einstufen und so ggf. den Krieg in die NATO tragen, indem es Waffenkonvois z.B. in Polen oder Rumänien angreift. Moskau hat auch erklärt, dass es bereit sei, Atomwaffen einzusetzen, wenn es sich in einer existentiellen Bedrohungslage fühlt. Wollen wir mit Waffenlieferungen und extremen Boykottmaßnahmen dazu beitragen?

Russland maximal schädigen – statt zu verhandeln

„Russland darf nicht siegen“, so inzwischen das westliche Mantra. „Wir“ verteidigen in der Ukraine unsere demokratischen Werte. Wenn „wir“ Russland nicht in der Ukraine besiegen, wird Russland bald in Berlin stehen, so ein Kommentar vom 21.4.22 aus Brüssel. Die Forderungen der Friedensbewegung, die ohnehin als „aus der Zeit gefallen“ (Scholz) oder als 5. Kolonne Moskaus/Putins (Lambsdorff) dargestellt wird, nach Waffenstillstand und Verhandlungen werden nicht ernst genommen. Die Friedensbewegung und die Ostermärsche wurden von Politik und Medien gleichermaßen massiv diffamiert. Eine rationale Auseinandersetzung findet kaum noch statt. Inzwischen scheinen den Gesinnungsbellizisten die Verantwortungspazifisten gegenüberzustehen.

Der Westen hat offensichtlich jegliches Interesse an einer Kriegsbeendigung und Verhandlungslösung verloren. Oder wie erklärt sich sonst, dass es keinerlei diplomatische Initiativen in diese Richtung mehr gibt und keinerlei politischer Druck auf die Kriegführenden zu einer Verhandlungslösung ausgeübt wird? Wie schäbig wurde der Versuch des österreichischen Bundeskanzlers Nehammer kommentiert, der nach Kiew und Moskau aufgebrochen war. „Naiv in Moskau“ – so die Süddeutsche Zeitung. Es gehe jetzt darum, Russland maximal zu schädigen und zu ruinieren – so hat der Westen das Kriegsziel verschoben und erweitert. Bis hin zum Regimechange in Moskau gehen die westlichen Überlegungen. Soll die Ukraine für den Westen einen unendlich langen Stellvertreterkrieg führen, der mit unendlich vielen Waffen „von uns“ befeuert wird?

Alte Friedensangebote wurden verworfen

Selenskyj hatte noch Ende März in einer seiner Ansprachen ein sehr weitgehendes Angebot gemacht, das später dann aber nicht mehr auftauchte (auf wessen Druck hin?): neutrale Ukraine, Sicherheitsgarantien, Verbot von Nazigruppen, Suspension des Sprachengesetzes, Krim zu Russland, Autonomie für den Donbass. Hätte er dies vor Kriegsbeginn angeboten, hätte der Krieg vielleicht ganz vermieden werden können. Doch inzwischen ist mit der Ankündigung der vollständigen Rückeroberung von Krim und Donbass eine Verhandlungslösung in der Tat in die Ferne gerückt. Die anfängliche Kompromissbereitschaft ist erstickt worden. Nach den zunächst weit fortgeschrittenen Verhandlungen in Istanbul Ende März ist weitgehend Funkstille eingetreten. Nicht nur das, Boris Johnson hat die Ukraine explizit aufgefordert, Russland gegenüber keinerlei Zugeständnisse zu machen. Solche Äußerungen nebst Waffenlieferungen sind regelrechte Kriegsermunterungen.

Wieviele Menschenleben will man in diesem Krieg um welcher Ziele willen noch opfern? Nicht nur die Tausenden von toten Zivilist*innen sind ja zu beklagen, sondern auch die Zehntausenden Soldat*innen. Die russischen Soldat*innen sind nicht freiwillig in den Krieg gezogen – und auch die ukrainischen Männer zwischen 18 und 60 Jahren werden zum Verteidigungskrieg gezwungen. Die „Schlacht um den Donbass“ hat gerade erst begonnen, heißt es. Ein russisches Massenheer von 100.000 Soldaten steht auf einer Front von 500 km Länge der vom Westen befeuerten ukrainischen Armee gegenüber. Wieviele Menschen sollen denn hingeschlachtet werden – für welche Ziele? Ist eine Kapitulation verbunden mit einem Verhandlungsangebot wirklich die schlechtere Alternative? Und wenn es sezessionistische Bewegungen gibt, müssen solche Probleme in UN- oder OSZE-Formaten in langfristigen Verhandlungen, Ausgleichen, Minderheitenschutz usw. zu Lösungen gebracht werden. Das hätte schon in Jugoslawien geschehen müssen.

Der UNO muss man völliges Versagen vorwerfen. Nach acht Wochen Krieg machte sich am 21.4. endlich UN-Generalsekretär Guterres auf den Weg nach Kiew und Moskau. Warum war er nicht längst früher dort und hat die Kriegsbeteiligten zu einer Konferenz aufgefordert? Weil die UNO – wie die OSZE – von der NATO politisch marginalisiert wird? Er konnte gerade mal eine kleine humanitäre Teillösung für die in Mariupol Eingeschlossenen erreichen.

Die Vorgeschichte gehört zur Kriegsgeschichte

Wer heute die Vorgeschichte des Krieges auch nur anspricht, wird schon als Kriegsbefürworter und Putinversteher (ist der Versuch, einen Menschen und sein Handeln zu verstehen, schändlich?) denunziert. Dabei hat der Krieg eine 30-jährige Vorgeschichte seit 1990/91. Die NATO-Osterweiterung wurde von Russland mehrfach scharf kritisiert, das Angebot an Georgien und die Ukraine schließlich im Jahr 2008 war geeignet, Russland weiter zu provozieren. Die 1990 breit getragene Idee vom gemeinsamen Haus Europa ist schnell den globalstrategischen Interessen der USA geopfert worden, die ein auch wirtschaftliches Zusammengehen von (West)Europa mit Russland nie akzeptieren wollten. Sonst hätte man auch Russland einladen sollen, der NATO beizutreten. Die Kündigung des ABM-Vertrages und des INF-Vertrages durch die USA und dann die Stationierung von Raketenabwehrsystemen, die auch offensiv genutzt werden können, in Polen und Rumänien, haben die Eskalationsspirale angetrieben. Mit der Aktivierung des US-Artillerie-Kommandos in Wiesbaden 2021, das früher für die Pershing II zuständig war, kündigt sich die Stationierung neuer Mittelstreckenraketen in Europa an.

Dass schließlich die von Russland gemachten Deeskalationsvorschläge – Vertragsangebote an die NATO und die USA vom 17.12.2021 – in ihren Kernvorschlägen im Januar 2022 allesamt von USA und NATO zurückgewiesen wurden, brachte wohl das Fass zum überlaufen. Im Februar erklärte Selenskyj dann vor der Münchner Sicherheitskonferenz auch noch, dass die Budapester Vereinbarungen von 1994 (KSZE-Memorandum) für ihn nicht mehr gelten, da die ukrainische Souveränität verletzt worden sei. Das hieß im Klartext für die russische Sichtweise, dass die Ukraine Atomwaffen anstreben könne. Und dass die ukrainischen Angriffe auf die besetzten Donbass-Provinzen Anfang/Mitte Februar deutlich zugenommen haben, bestätigen die Tagesberichte der OSZE-Beobachter. Minsk II von 2015 (u.a. verfassungsmäßiger Autonomie-Status für die Donbass-Provinzen) wurde ja nie umgesetzt, hier haben auch Deutschland und Frankreich als „Minsk-Schutzmächte“ deutlich versagt.

All dies rechtfertigt selbstverständlich nicht den Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine. Russland hätte weitere alternative Optionen gehabt und hätte beharrlich auf Abrüstungsverhandlungen und Verhandlungen über Sicherheitsgarantien bestehen und dafür politische Partner suchen müssen. Denn der Krieg wird gerade auch für Russland langfristig negative Folgen haben. Finnland und Schweden wollen bereits in die NATO. Dass es für Russland nach dem Krieg mehr Sicherheit als zuvor geben wird, ist extrem unwahrscheinlich.

Weiter für Verhandlungen eintreten – Bundeswehr-Aufrüstung entgegentreten

Die Friedensbewegung sollte trotz alledem weiterhin Druck auf die Politik ausüben und eine Verhandlungslösung einfordern. Wichtig sind Solidarität mit den Ukrainer*innen, humanitäre Hilfe, Unterstützung von Flüchtlingen, Kriegsdienstverweigerern und Deserteuren. Connection e.V. koordiniert hier mit anderen Friedensgruppen zusammen hervorragend die Unterstützung für Deserteure aus den kriegsbeteiligten Staaten und hat eine Beratungshotline eingerichtet.

Außerdem muss die Friedensbewegung entschieden dem 100-Milliarden Aufrüstungspaket von Scholz und Lindner entgegentreten. Darin enthalten sind auch die Anschaffung der F-35-Atombomber für die nukleare Teilhabe und die neuen für Büchel vorgesehenen B61-12 Atombomben sowie die Entwicklung neuer Panzer (MGCS) und Kampfflugzeuge (FCAS) für ein mit Eurodrohnen vernetztes völlig neues elektronisches Kampfsystem. Die nötige 2/3-Mehrheit im Bundestag für die angestrebte Grundgesetzänderung von Artikel 87 zur Durchsetzung des „Sondervermögens“ darf nicht zustandekommen.

Ansätze ziviler Verteidigung

Der Bund für Soziale Verteidigung hat mehrfach darauf hingewiesen, dass die Ukraine durchaus statt der militärischen Verteidigung auf soziale, zivile Verteidigung umstellen könnte. In einigen besetzten Städten geschieht dies auch spontan und teils erfolgreich. So konnte durch zivilen Protest ein verschleppter Bürgermeister wieder zurückkehren. In vielen Situationen haben sich Ukrainer*innen ohne Waffen den Panzern entgegengestellt. Wäre das Konzept vorbereitet gewesen, hätte Russland zwar eine Besetzung durchführen können, aber die Menschenleben wären gerettet gewesen, und der zivile Widerstand hätte langsam wieder aufgebaut werden können. Ziel der Sozialen Verteidigung, die auch hier bei uns erneut auf die Tagesordnung gehört, ist es, die gesellschaftlichen Strukturen zivil so zu verteidigen, dass das Land für einen potentiellen Besatzer „unverdaubar“ wird – und eine eingeübte Soziale Verteidigung würde auch eine entsprechende Abschreckungswirkung entfalten. Die schon alte These, dass moderne Industriegesellschaften militärisch strukturell unverteidigbar sind, erweist sich im Ukraine-Krieg konkret.

Unverteidigte Stätten – Chance für Zivilist*innen

Der Völkerrechtler Norman Paech hat kürzlich auf die in den Genfer Konventionen enthaltenen Möglichkeiten der „unverteidigten Orte“ hingewiesen. Kriegsbeteiligte können Gebiete im angegriffenen Land zu solchen unverteidigten Orten erklären, die dann nicht angegriffen werden dürfen, aber natürlich selbst auch nichts zur militärischen Verteidigung beitragen dürfen. Dies wäre eine sehr gute Möglichkeit für die Ukraine, Menschenleben zu retten. Paech schrieb Anfang März: „Wäre es aber nicht möglich, die Waffenstillstandsverhandlungen dadurch zu beschleunigen, dass die derzeit belagerten und am meisten gefährdeten Städte Kiew, Mariupol und Charkiw, aber auch Odessa und andere Orte sich zu ‘unverteidigten Stätten’ erklären?“ – 1977 wurde das Konzept der unverteidigten Orte vom 1. Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen von 1949 in Art. 59 fast wortgleich zur ursprünglichen Fassung übernommen. Es wurden nur einige Voraussetzungen für die Erklärung hinzugefügt: So müssen alle Kombattanten sowie die beweglichen Waffen und die bewegliche militärische Ausrüstung verlegt worden sein. 1945 hatten sich einige deutsche Städte durch Erklärungen zu unverteidigten Orten vor der Vernichtung retten können. Der Artikel 59 lautet: „Unverteidigte Orte – 1. Unverteidigte Orte dürfen – gleichviel mit welchen Mitteln – von den am Konflikt beteiligten Parteien nicht angegriffen werden. (…)“

Wie auch immer dieser Krieg weitergeht – die Friedensbewegung wird dabei bleiben, Waffenstillstand zu fordern und der geforderten Lieferung schwerer Waffen sowie der Veränderung der Kriegsziele und dem massiven Aufrüstungskurs der NATO einschließlich atomarer Aufrüstung zu widersprechen. Jeder selbst unvorteilhafte Verhandlungsfrieden ist besser als die Fortsetzung des gegenseitigen Abmetzelns von Menschen.

Vgl. zum Thema auch: Sandro Mezzadra, Warum der Ruf nach Waffenlieferungen an die Ukraine zu kurz greift. Harald Welzer, Lob der Bedachtsamkeit, in: Spiegel 19, 7.5.2022. Martin Singe ist im Reaktionsteam des Friedensforums aktiv.

Über Martin Singe:

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