Die Aufregung ist gross, weil ein DLF-Hörer in eine Anrufsendung durchkam, um dort zum Mord am ukrainischen Präsidenten aufzurufen. Sowas passiert, wenn öffentliche Medienanstalten am Personal sparen. Casting ist eine Aufgabe für Hochqualifizierte. Da ist Empathie, Menschenkenntnis, das sensible Wahrnehmen von schlüsselhaften Signalen gefragt, plus Urteilskraft über Diskurse und Dramaturgien. Wer dafür billige Hilfskräfte einsetzt, wird mit schlechtem Programm bestraft. Call-In-Sendungen sind in den Anstalten ausserdem so beliebt, weil sie so billig sind: so lange Hörer*innen quatschen, die nur selten darin geschult sind, zuzuspitzen und kurz zu fassen, muss in Journalismus nicht investiert werden. Sowas kommt von sowas.

Wenn es dann mal sachlich und konstruktiv zugeht, wie z.B. gestern hier “Mehr gegeneinander als miteinander? Fahrräder und Fußgänger im öffentlichen Raum” (Audio 72 min), dann gibt es eben keine öffentliche Aufregung und Beachtung. It’s Aufmerksamkeitsökonomie, stupid!

Eine mehr selbstreferentielle Aufregung weht durch die Medienpresse, weil ein nichtöffentlich tagendes ARD-Gremium – alle Jahre wieder – die eigenen ARD-Talkshows für ihre Langeweile und Gleichförmigkeit kritisiert hat. Als Aussenstehender staune ich, wie “schnell” die das bemerkt haben. Jetzt kann es nur noch hundert Jahre dauern, bis sich was ändert. Denn die TV-Sender machen die “Shows” nicht selbst, sondern lassen sie machen, geben sie mit komplizierten nichtöffentlichen Verträgen in Auftrag. Die “Talkmaster*innen” sind in Wahrheit Unternehmer*innen. Dieses Sein bestimmt ihr Bewusstsein. Wundern muss sich dann keine*r mehr über irgendwas.

Bei “Hart aber fair” (WDR) ist gerade Krise, weil zwar der “Talkmaster” (Klamroth) ausgewechselt wurde, aber nicht der Unternehmer (Plasberg). Die gleiche Firma machte weiter wie vorher. Dass das nicht gutgeht – hat das der WDR-Direktion niemand gesagt? Oder war es Absicht, dass das schiefgeht?

Alternative

Schauen Sie nur mal auf das bisherige Lebenswerk von Tilo Jung. Da können Sie mal sehen, was Sie beim jahrelangen Talkshowglotzen alles verpasst haben. Einige übliche Verdächtige finden Sie auch in dieser Liste wieder – aber auch hunderte Andere, die Sie noch nie in der Glotze gesehen, die aber was zu sagen haben. Weil der Herr Jung und sein kleines – und mittlerweile erfahrenes Team – neugierig sind, in die gefährliche Welt da draussen hinausgehen, und den Eindruck erwecken, als wenn sie tatsächlich noch was dazulernen wollen.

Wie viele Bretter sind eigentlich nötig, um deutsche TV-Talkshowredaktionen so zuzunageln, dass sie das alles nicht mitkriegen?

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
Sie können dem Autor auch via Fediverse folgen unter: @martin.boettger@extradienst.net