Beueler-Extradienst

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Paralleles Absaufen: Ruhrgebiet & Sozialstaat

Hans Hütt/FAZ berichtet uns heute von der gestrigen Maischberger/ARD-Runde. Gut, dass ich mir das erspart habe. Auch auf die Champions-League habe ich dankend verzichtet – zu dieser Anstosszeit (21 h) mit Aussicht auf eine 6er-Konferenzschaltung in meiner Fußballkneipe, dafür trat ich nicht vor die Tür.
Martin Kronauer und Stephan Lessenich/taz bezeichneten zutreffend, was die BRD zusammenhielt: “Die BürgerInnen akzeptierten die ökonomische Herrschaft der Kapitaleigentümer und das politische Herrschaftsprinzip der repräsentativen Demokratie – im Tausch gegen Teilhabe am wachsenden wirtschaftlichen Wohlstand, gegen ein Recht auf Einkommenssicherheit und die Aussicht auf sozialen Aufstieg.” Das soziale, gesellschaftliche und politische Zentrum dieser gesellschaftlichen Übereinkunft war das Ruhrgebiet, der bis heute einwohner*innen*stärkste deutsche Ballungsraum. Hier erreichte die SPD mal 70% der Stimmen. Ich war dabei und habe darunter gelitten. Aus heutigem Blickwinkel sieht es für mich anders aus.
Beides säuft jetzt ab. Hütt und Kronauer/Lessenich beschreiben das. Zum Ruhrgebiet habe ich das Problem hier schon benannt. Gestern hat es mit interessanten Hinweisen auf die neue Wissenschaft “Nachbergbau” ein sehenswerter WDR-Film von Marko Rösseler erklärt. Wenn Sie gestern lieber BVB geguckt haben: den sollten Sie nicht verpassen. Im Rahmen des globalen kapitalistischen Extraktivismus könnte diese Wissenschaft, zusammen mit der Bergbau- und Klimatechnik zu einem fetten Schlager der deutschen Exportwirtschaft werden. Hatten Sie PR-Aktivitäten des WDR für so ein wichtiges Werk bemerkt? Ich nicht. Gleichzeitig ist bemerkenswert, dass der Film bei allem ihm innewohnenden kritischen Impetus als erster Schritt, als Beginn einer Gewöhnung an das kommende Schicksal gesehen werden muss. In meiner Familie hatten wir bereits vor einigen Jahren meine Mutter in tränenreichen Auseinandersetzungen davon abgebracht, für die Familie in Essen-Karnap, mehrere Meter unter dem Meeresspiegel, das selbstbewohnte Haus zu erwerben. Bei uns war das Volkswissen: schon im Winter 1969/70, der ersten Meisterschaftssaison von Borussia Mönchengladbach, lernte ich, warum das bei RW Essen 0:1 verlorene Auswärtsspiel an der Essener Hafenstrasse unter irregulären Bedingungen verlief: eine Mischung aus Wasserball und Schlammcatchen.
Kurz vor dem Absaufen soll den – von aussen allgemein für intellektuell minderbemittelt gehaltenen – Ruhris aber noch mal lehrbuchhaft das Fell über die Ohren gezogen werden, von zwei FDP-Promis, die sich damit für das fortgesetzte Ignorieren ihrer Partei durch das Ruhrgebiets-Wahlvolk rächen wollen: mit Olympischen Spielen soll ihm der Rest gegeben werden (wie das endet: siehe Rio).
Das macht die Wut am Grössten: für dööfer gehalten werden, als mann*frau ist.
Noch eine Nachfrage an die WDR-Programmdirektion: wohin soll das führen? Sport inside ist augenscheinlich so dünn besetzt und personell ausgehungert, dass es noch nicht mal gelang zeitgerecht voranzukündigen, welche Themen in der gestrigen Sendung vorgesehen seien, weder auf der WDR-Homepage noch im Videotext. Wenn Sie das nicht mehr hinkriegen, leisten Sie doch den Offenbarungseid: Journalismus? Bei uns nicht mehr.

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
Sie können dem Autor auch via Fediverse folgen unter: @martin.boettger@extradienst.net

Ein Kommentar

  1. Der Maschinist

    Eine kleine Korrektur sei mir erlaubt, denn wenn der Beitrag in 100 Jahren mal gegoogelt wird, dann möchte ich gerne den Preis für’s Klugscheißen gewinnen:

    Essen-Karnap liegt mitnichten mehrere Meter unter dem Meeresspiegel. Das gibt es sogar im potentiell absaufenden Ruhrgebiet (über Tage) nirgendwo. Doch immerhin beträgt die relative Meereshöhe des bewussten Hauses nur ca. 27 Meter. Und damit liegt es – wie der ganze Stadtteil – tatsächlich unterhalb des Emscherdeichs. Als dieser Deich 1946 gebrochen ist, hat unsere Mutter in einem Aufsatz für die Schule das Sprichwort “Und ehe wir uns versahen, saßen wir mit dem Arsch im Wasser…” geprägt. Darüber lache ich heute noch gerne.

    Grundsätzlich hat Martin mit der Erwähnung der besonderen Problematik aber vollkommen recht. Der hohe Grundwasserspiegel – und die anfallenden Ewigkeits-Grubenwasser sind potentiell genug, um das nördliche Ruhrgebiet von Walsum bis Mengede umgehend absaufen zu lassen. Wenn die Pumpen mal abgestellt werden, ist “Land unter”.

    Und wer heute schon mal “unter das Meer” gucken möchte, der & die fährt einfach nach Holland oder Schleswig-Holstein. In der Wilstermarsch geht’s bis auf -3.5 Meter runter.

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